Max Reinhardt

Gelaufene Postkarte mit Fotografie des Schauspielers Max Reinhardt, mit eigenhändiger Signatur desselben, 1911 / Nicola Perscheid / Public domain

Max Reinhardt ist bis heute eine umstrittene Persönlichkeit. Die einen diffamieren ihn als einen an die deutschsprachige Kultur assimilierten Juden, andere glorifizieren seine Leistungen auf der Theaterbühne. Es ist in der Tat schwierig, sich von diesem Max Goldmann alias Max Reinhardt ein genaues Bild zu machen. Allein die Übergabe der "Ehrenarierschaft" durch das Drängen des Schauspielers Werner Krauß im Jahre 1938 symbolisiert eine groteske Facette der NS-Kulturpolitik und macht die Sonderrolle des Künstlers deutlich. Selbstverständlich lehnte Reinhardt diese perfide Offerte dankend ab.

Dennoch lassen sich mit der schillernden Figur des Max Goldmann, wie sein bürgerlicher Name lautete, obskure Mythen, beißende Sozialkritik und abgrundtief scheinende Täler überfüllt mit Schutt, Schmutz, Asche assoziieren.

Der Scheideweg seines Lebens, initiiert durch die naturalistischen, archaischen Machtbestrebungen des Nationalsozialismus, vollzog sich gerade, ohne Wehen, ohne Jammern, aber mit einer ultimativen Rehabilitation seiner religiösen Grundfesten.
In einer Zeit des künstlerischen Epochenwechsels war er der Protagonist, ein Frevler, der die Verdammung des naturalistischen, unzeitgemäßen, obsoleten Theaters mäßigend lancierte. Im darauffolgenden, durch den Krieg und die Kulturverhetzung notwendig Gewordenen schien er sterbend dahinzusiechen, von den Medien als "somnambulistisch" stigmatisiert. Selbst sein eigens befürworteter Exodus nach Hollywood bedeutete nur eine Verschiebung seines "Untergangs". Allerdings wurde diese Theorie schnell falsifiziert: Frustration und Resignation des Berufslebens schürten bei dem fast 70-jährigen eine tragende Kontemplation, welche sich bewusst seinen jüdischen Wurzeln annahm. Seine subtilen Ausuferungen mündeten letztendlich in einer malignanten Verballhornung des in Deutschland wieder entdeckten und an die Macht gesetzten politischen Dünkels. "Wenn ich mir meine Großmutter hätte aussuchen können, ich hätte gewiss nicht die unselige Schickelgruberin, sondern die alte gute gescheite Jüdin ausgesucht, die Gott mir beschieden hat, und die mir Gott sei Dank beschieden war." Eine Wirkung wie ein Fanal mag diese Sentenz, einem sarkastischen Kommentar an einen Bekannten entnommen, auch ohne Berücksichtigung seiner Intention, die Bezichtigung der Schlechtigkeit, der fadenscheinigen Moralität oder der unabdingbaren Mentalität des indoktrinierten "Krupp-Stahl-Menschen", forciert zu haben. Mit dem Gehalt, ja der expressiven Intensität und der Eloquenz - zu einem verschlingenden Raubtiermaul geformt - erreicht Reinhardt in den Betrachtungen über seine genealogischen Umstände einen neuen Status: Der vermeintliche Höhepunkt seiner Sozialkritik (Zitat oben) wurzelt aber in einem Fundament, das latenter und diskreter ausgebildet niemals zu existieren gepflegt habe.

Von links nach rechts: Max Reinhardt, Gustav Mahler, Carl Moll und Hans Pfitzner im Garten der Villa Moll (Steinfeldgasse 6-8, 1190 Wien) / Moritz Nähr / Public domain

Doch waren diese Denunziationen nicht zielsicher gerichtet auf eine adäquate Abrechnung mit den misanthropischen Betrachtungen der Nationalsozialisten oder sind sie eher als Reflex auf die "morbide" Emotionalität Reinhardts in Verbindung mit einer anhaltenden materiellen Not zu werten?

Verfolgte Reinhardt ein subjektives, politisch angehauchtes Ziel oder war seine Kritik, versteckt in den Inszenierungen der Klassiker, der Antike und Moderne, gegen die immer trivialer werdende, narzisstische Gesellschaft preußischer Hofkultur (gerichtet) und später die Farcen, die entgegen den Nationalsozialisten gesponnen wurden? Kapitalistische Tendenzen zu unterbinden -war das sein vorrangig operierendes Prinzip?

Max Goldmann, Sohn eines ungarischen Judens Wilhelm Goldmann und der aus dem mährischen Nikolsburg stammenden Rosa Wengraf, wird, nach der zwangsweisen Umsiedlung seiner Familie von Stampfen (gelegen im Komitat Preßburg im Königreich Ungarn) in das nahegelegene Kulturzentrum Wien, als erstes Kind dieser Familie geboren. Prosperiert bald auch das Geschäft seines Vaters Wilhelm im emanzipatorisch geprägten Wien, wird dieses aber mit der Usurpation der kommunalen Macht durch die antiliberale, antisemitische Gruppierung um Georg Ritter als auch in Verbindung mit dem Börsenkrach vom Mai 1873 schrittweise zerstört. 1873 wird Max Reinhardt geboren. Enthusiasmus für das Theater, sittliche Prägung in exzellentem Grade und faszinierende Erlebnisse innerhalb des kulturellen Rahmens der Stadt Wien provozieren seine künstlerischen Aktivitäten. Sein Pathos, seine Impressionen waren maßgebend für die weitere Entwicklung seines "theatralischen" Lebens, bei welchem er in Glanzzeiten drei verschiedene Funktionen inne hatte. Diese Entdeckungen, ein Sammelsurium von frappierenden Erlebnissen auf der Theaterbühne im Sulkowsky-Theater in Matzleinsdorf, einem Wiener Vorort, führten ihn 1894, aufgrund der Suche des damaligen Direktors des Deutschen Theaters und als "Naturalistenpapst" verschrieenen Otto Brahm nach einem geeigneten Ensemble schauspielerisch nach Berlin, dem Mekka naturalistischer Elemente und höfischem Narzissmus. Ein saturiertes, preußisch geprägtes Großstadtpublikum, das sich auf der Schwelle zum euphorisch bejubelten Imperialismus befand, bildeten eine durchweg illustere Audienz.

Reinhardts Begeisterung für ein solches Publikum, welches sich in einer von Prunk ausgefüllten Suhle wälzt, flachte zusehends ab: Seine Abneigung richtet sich allerdings nicht gegen die Gesinnung oder prätentiöse Einstellung der Zuschauer, sondern vielmehr veräußerte sich seine Antipathie gegen eine zunehmende Reservation des Theaters. Er hegt Mitleid mit der "Unvollständigkeit" des Theaterbesuchs. Auf seine Initiative hin wurden reformierende Pläne entwickelt , die vor allem zur Steigerung der Intensität, auf körperlicher und seelischer Basis, einen entscheidenden Beitrag leisten. Die Laienrevue, in einen anhaltenden Verismus gekleidet, erzeugte melancholische Untergangsstimmung beim eher progressiv eingestellten Reinhardt. "Früher gab's Menschendarsteller. Heute existieren Ibsendarsteller, Hauptmanndarsteller, Stylschauspieler u.s.w.- Auch ein Zeichen unserer Zeit, die das Bedürfniß hat, mit kleinlicher Pedanterie auch in der Kunst alles einzuschachteln, in Fächer, Kasten oder Formen einzuzwängen... Auf Kosten dieses Systems kommen die größten Nichtigkeiten zu Positionen."

Töne des Bedauerns, der Anteilnahme am ominösen Schicksal der deutschen Kultur erklangen bereits in kakophonischer Melodie aus dem Munde eines jüdischen Künstlers, dem romantischen Literaten Heinrich Heine. Max Reinhardt rezipiert seine Gedanken in einem "vorberlinischen" Brief über das Deutsche Haus in Brno und dessen Charisma. "Das Theater ist prächtig, leidet aber am Indifferentismus des Publikums, das trotz seiner Deutschthümelei sehr philiströs ist - oder sollte dieses "trotz" unberechtigt sein? Heine identifiziert bekanntlich "deutsch" mit "philiströs". Dann müßte man ...Brno hyperphiliströs nennen."

Max Reinhardt als Weber Ansorge in "Die Weber" von Gerhard Hauptmann, Berlin 1894-1900

Der sich immens steigernde Agens des als Persönlichkeit heranreifenden Reinhardt, dessen Namensänderung von ungarischen Behörden erst 1904 bewilligt wurde, vermischte sich mit seinem beruflichen, aber auch ideologischen Bild. Er fokussierte in den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts, entspringend aus seiner Unzufriedenheit mit vorherrschenden Praktiken an konventionellen Theatern, die Arbeit an kabarettistisch und sezessionistisch geprägten Theatern. Jene Vorliebe erweiterte Reinhardt speziell in den Jahren, welche für sein Schaffen den Höhepunkt bedeuteten. Das perfekt aufeinander abgestimmte Konglomerat von Architektur, Kammermusik, Illusion und Wirklichkeit, Professionalität der Schauspieler und ein ungeheuer subtil zusammengewebtes Spinnennetz, das Zuschauer und Protagonisten verkitten sollte, ist durchweg maßgebend für seine Arbeit. Seine Inszenierungen, die er ab dem Jahre 1902 einem breiten Spektrum an Zuschauern präsentierte, sollten Zeit seines Daseins als Regisseur fernab und frei von jeglicher Politisierung fungieren.

Foto: Bundesarchiv, Bild 183-M0937-504 / Unbekannt / CC-BY-SA 3.0 / CC BY-SA 3.0 DE

Eine apolitische, aber mit Sozialkritik versehene Einstellung als integrativen Bestandteil seiner unzähligen Inszenierungen an verschiedenartigsten Theatern in Europa und später auch den USA (in Gastspielreisen) adäquat zu vermarkten, war zwar nie sein Hauptziel, allerdings befähigten sich die medialen- und Theaterkritiker des vermaledeiten Charakters, sich dieses vermeintlichen Defizits der Reinhardtschen Schauspielkunst zu bemächtigen. Herbert Jhering, neben Karl Kraus scharfzüngigster Kritiker Reinhardts und in seiner Person die Inkarnation des Demagogen eines gesellschaftskritischen Theaters, notierte um 1920. "An ihn hat sich keine Tradition angesetzt, die Grundlage für Zukünftiges sein könnte." Max Reinhardt, der im immerwährenden Kampf gegen die staatlich konventionierte Zensur Satiriker (Carl Sternheim) und antibourgeoise Attitüden aufsetzende Dramatiker (Frank Wedekind) auf die Bühne brachte, wurde als Spielball der Rezensenten und Kritiker nicht etwa zermürbt, sondern eher als ambivalent zu betrachtende Persönlichkeit verkannt. Für seine auch in den Kriegsjahren pazifistisch determinierten Inszenierungen stellte er sich bewusst in die theatralische Opposition, spielte Klassiker im neuzeitlichen Gewand, bekränzte diese mit der ihm archetypischen apolitischen Note - und wurde dafür von der nationalen Presse mit Schelte und Rügen "geehrt". Dennoch fanden seine sozialkritischen Betrachtungen auch begeisterte Anhänger, die, wie Heinrich Mann, seine Präzision und Nähe zu aktuellen gesellschaftlichen Dilemmata theoretisch akzeptiert und in der szenischen Umsetzung fast schon polemisch feiert (Entdeckung des jungen, revolutionären Schiller und des längst vergangenen Revolutionärs Büchner).

Um das Werk Reinhardts auf der Theaterbühne und seine ideologischen Standpunkte in einen Zusammenhang zu bringen, bedarf es im Endeffekt der Fokussierung der sozialkritischen Aspekte seiner Arbeit.

Max Reinhardt kann als kontroverse, nicht geradlinig agierende Persönlichkeit betrachtet werden. Exemplarisch scheint hier seine wechselnde Sicht zur apolitischen Haltung des Künstlers. Das Gemäuer scheint zu bröckeln, als er 1914 die nationalistische Proklamation "Manifest der 93", initiiert von Intellektuellen, mitunterzeichnet. Bald jedoch distanziert er sich hiervon. Die Kunst ist ein wahrhaft neutrales Land und ihre Güter sollten jederzeit ohne Rücksicht auf Nationalität ein- und ausgeführt werden können. Im kalifornischen Exil, mitten in einer spannungsgeladenen Phase, formuliert er: "Ich will nicht über Politik sprechen. Ich wüsste wirklich nicht, was mir ferner läge, nichts, dem ich ferner bleiben möchte." Und weiterhin, in bezug auf die nihilistische Tendenz innerhalb der Politik: "Die fürchterlichste Erkenntnis für mich ist es, dass es gar keine Rolle spielt, ob Autokratie oder Demokratie herrscht. Die Republikaner thun doch im Effekt dasselbe. Die Tyrannei kommt ja nicht von oben, sie ist ja nur die Folge eines tief wurzelnden Bedürfnisses der Masse, das gar nicht auszurotten ist. Die einzig wahren Genies von Gottes Gnaden...sind die Kinder. Wir sollten uns nur von ihnen regieren lassen."
Frustration, hypochondrische Ausflüchte einer Paralyse über die Sinnlosigkeit jeglichen politischen Agierens schwingen hier permanent mit. Reinhardt kritisiert nicht die preußischen Modalitäten des Regierens, sondern die Mentalität der Bürger. Die Bürger und Einwohner des preußischen Territoriums scheinen die Mächtigen zu oktroyieren, weshalb von oben ein Dompteur walten muss. Eine andere Auslegung spiele sich folgendermaßen ab: "Bismarck, seines Zeichens wohl angesehenster Mann im damaligen Ausland, reguliert die Tyrannei von oben, scheint sie in Latenz halten zu können und die Massenseele hyperventiliert im Versuch, die Tyrannei für sich zu gewinnen." Zeigt sich in diesen Hypothesen Reinhardts aber die Reflexion der Realität oder eine allzu subtile Betrachtung, die das Katastrophale, Kafkaeske, Morbide rekapituliert ? Sollte Reinhardt als Psychologe betrachtet werden, hegt er vielleicht sogar existentielle Fragen ? Reinhardt schreibt 1917, unter dem Eindruck der Kriegswirren an Felix Hollaender, einen Freund Gerhart Hauptmanns: "Übrigens beneide ich Sie aufrichtig um Ihren wundervollen Optimismus in Bezug auf Deutschland. Ich fürchte nur, er wird sich als ebenso grundlos erweisen wie vor drei Jahren. Michel hat ein wenig lauter geschnarcht als sonst und die Deutschen...hielten das schon für einen Revolutionssturm. Das apathische und lethargische Deutschland - falls dieser Begriff überhaupt als angebracht erscheint - voll von Missständen, offenbart anhaltende Probleme.

Prof. M. Reinhardt wird 1930 anläßlich eines Jubiläums im Garten seines Heims gefilmt.

Foto: Bundesarchiv, Bild 183-H0927-506 / CC-BY-SA 3.0 / CC BY-SA 3.0 DE

Diese liegen vor allem im doktrinären Stil der Ausrichtung des menschlichen Verstandes nicht nur auf Kapitalismus in Verbindung mit Imperialismus und globalen Hegemonialansprüchen, sondern auch in Bezug auf eine allzu diskrete Bereitschaft, sich von der erdrückenden Macht zu befreien." Reinhardts Position zu neuen, grandiosen Entdeckungen und Sozialutopien, politischen Systemen mit augenscheinlich progressivem Hintergrund und anderen verheißungsvollen "Neokratien" sind auch später, im Exil, von ergreifender Nichtigkeit umgarnt: "Ich für meinen Teil bin überzeugt, daß alle atembeklemmenden Ereignisse dieser Tage, alle Kommun-Fasch-Nazismen und ihre Führer (zum Untergang) nur Teilerscheinungen sind einer ungeheuren sozialen Umwälzung, die mit der Französischen Revolution einsetzte und für alle "Volksbeglücker" der Erde nichts gefunden haben, was sie beendigen könnte. Ich muß oft an die Fliege denken, die am rollenden Wagenrad sitzt und triumphierend summt: Was ich für einen Staub aufwirble! Sie hat keine Ahnung, daß sie nicht führt, sondern geführt wird." Dass Reinhardt jedoch nicht von diesen Tendenzen und Nichtigkeiten verschont blieb, ist allzu verständlich.

Eingeholt von den Wirren und der triumphalen Niederlage der OHL im Ersten Weltkrieg zog er sich einerseits in seine festlich, feierlich und prunkvoll ausgestattete neue Heimat Leopoldskron in Salzburg zurück, von wo aus er mit Schrecken die Proklamation der Weimarer Republik und die daraus resultierenden Konsequenzen für sein Schaffen betrachtete. Bald jedoch schon überwand er die Bestürzung über die einschneidende Politisierung des Theaters. Junge Regisseure, hartnäckige Rezensenten (Jhering, Kraus) und eine widerwillige Berliner Presse führten den designierten "Theaterpapst" wieder zurück in seine Heimat. Reinhardts Assimilation an typische deutsche Traditionen schreitet, wenn auch teilweise unbewusst, in stetem Maße voran.
Die sich anbahnende, europaweit entsandte Wirtschaftspsychose, die Inflation und Weltwirtschaftskrise, bilden ein weiteres Fanal, das die Abneigung Reinhardts für diese Zeit akzentuiert.

Der Tristesse der Jahre voller ökonomischer und sozialer Krisen sollte jedoch nur ein Vorgeschmack künftigen Unheils sein.
Reinhardt verlor nach der Machtergreifung Hitlers im Januar 1933 nicht nur sukzessive seine berufliche Stellung , sondern darüber hinaus - auch aufgrund der Ablehnung der "Ehrenarierschaft" - seinen Privatbesitz. Seine komfortable Residenz Leopoldskron wurde enteignet. Dabei behalfen sich die legitimierten Machtinhaber Deutschlands erneut einer "Persiflage": Sie trieben fingierte Steuerschulden durch die österreichische Regierung ein. Reinhardts Besitz und Reputation schienen schnell im Nichts zu versinken.
Bevor er seinen endgültigen Entschluss der Emigration in die USA zielstrebig ins Auge fasste, geschah etwas auf den ersten Blick unwahrscheinlich, merkwürdig, kurios Erscheinendes: Reinhardt vermacht sein Lebenswerk brieflich zum Nationalvermögen Deutschlands gehörig, darunter den materiellen und ideellen Wert seiner zahlreichen Berliner Bühnen. Die sich dahinter verbergende Anschauung lässt - in leicht abgewandelter Form - den gleichen Kontext durchblicken, welchen er bereits 1915 als Reflex auf die Mitunterzeichnung des "Manifestes der 93" rezipierte: die Souveränität der Theater- und allen anderen Künsten.

Die absolute Notwendigkeit des Exils zeigte sich nicht in seiner Abneigung gegen das soziale System im NS-Staat, sondern auch in der Leblosigkeit der Familie Reinhardt: "Der Esprit verblasste, das querulante System tat sein Übriges. Reinhardts in Leopoldskron zu begrüßen, die sich schon wieder hart vor der Abreise befanden, in Gedanken halb zu Schiffe...Und die Fabeltiere waren tot. Keines warf mehr die schier immateriellen Füßchen gefallsüchtig ins Leere. Verlassen ihr Revier. Man begab sich nicht mehr in diese Gegend des Parkes." Annette Kolbs Impressionen über die Eklatanz der Situation, eingefangen in einer bedrückenden Stimmung, reflektieren eine facettenreiche Momentaufnahme: "der Drang nach allumfassender freier Betätigung, das Abschütteln der Last des Gewaltmonopols des Regimes, die Hoffnung auf das reellere Leben in Übersee, die Abkehr von der prunkvollen, trivial gewordenen Fassade des barocken Schlosses Leopoldskron mit seinem mit "Fabeltieren" geschmückten Garten und einem nahe gelegenen Neuanfang. Doch blieb die Macht des "eleos" im Treibsand stecken, furchten sich die rastlosen Ereignisse durch unwegsames Gelände fort." Reinhardt schrieb über eine mögliche Auswanderung und der damit verbundenen Einbürgerung bereits 1934: "Es ist die einzige Auszeichnung, die Amerika zu vergeben hat und sie würde unter den heutigen Umständen a l l e s für mich bedeuten und mich veranlassen, meinen dauernden Wohnsitz hierher zu verlegen."

Im Oktober 1937 inszenierte Reinhardt letztmalig auf deutschem Boden, bevor das Exil mit der letzten, jemals seinerseits getätigten Atlantiküberquerung besiegelt wurde. Die USA betrat Reinhardt, der 1940 die amerikanische Staatsangehörigkeit zugesprochen bekam, vor 1937 nur als Gast, auf Tourneen mit seinem Ensemble. Viel bejubelt, gern gesehen, das Publikum hypnotisierend, wären wohl adäquate Attribute für sein bisheriges Schaffen in den USA. Reinhardts erste große Projekte bestanden im Arrangieren von Schauspielen auf Freilichtbühnen und - der Arbeit an Franz Werfels "Eternal Road", der "Weg der Verheißung". Meyer Weisgal, Zionist und Theaterenthusiast, fragte bei ihm an, ob er nicht ein jüdisches Schauspiel als eine Art jüdische "Antwort auf Hitler" inszenieren möge. Weisgals lakonisches Statement, sozusagen der Lockruf, lautete: "If Hitler doesn't want you, I'll take you." Reinhardt willigte nach langem Zögern ein, das als Alternative gedachte Stück Werfels ins Programm aufzunehmen. Das kontextuelle Gefüge scheint vital, frisch und von gediegener Pracht zu sein: Die monumentalen, alttestamentarischen Geschehnisse werden rekapituliert, Werfel selbst assoziierte folgende Gedanken mit diesem Stück: "Dieses Bibelspiel ereignet sich unter einer zeitlosen Gemeinde Israels in einer zeitlosen Nacht der Verfolgung. Ein symbolisches Bühnenstück, umgeben von einer kontemplativen Atmosphäre, das die Sendung und Verheißung des Volkes der Bibel impliziert."

Das jüdische Schauspiel, uraufgeführt vor seiner endgültigen Emigration aus dem Deutschland der Nationalsozialisten, sollte der letzte, grandiose Erfolg Reinhardts sein.
In seinen Tatendrang mischen sich zusehens Resignation, Frustration und offensichtlich auch der Jammer, das Verzweifeln über eine verzeifelte Situation. Diese Situation verkörpert die Ablehnung, Abneigung und das Sich-Abwenden der großen Theaterbühnen von der einst so hoch dotierten Persönlichkeit, dem "Theatrarchen" Max Goldmann.
Reinhardts Fiasko reißt nicht ab: Sein mit jungen, hoffnungsvollen Schauspielern und Laien gefüllter Workshop, den er an der Westküste aufbaute, kann seine Ziele nicht verwirklichen, sein Nachfolger weicht ebenso von der eingeschlagenen Linie ab und versucht, sich an die gegebenen Umständen anzupassen.

Reinhardt scheint zu kapitulieren, total zu resignieren: "Ich bin schon einmal in meiner Jugend durch die Martern der plötzlichen Verarmung in meinem Elternhaus gegangen, die unvergleichlich viel schlimmer ist, als Armut. Aber ich begann bald darauf meine Bühnenlaufbahn..." Wieder schien ein Rettungsanker in Hollywood, das alle Arme nach einem ausstreckt und einen in dieser Umarmung jahrelang festhält, in Sicht. Allerdings zerplatzten seine Hoffnungen erneut: Seine letzte Inszenierung - eine symbolische Parabel - das Antikriegsstück "Sons and Soldiers" des Iren Irwin Shaw wird von der zuständigen Filmgesellschaft abgesetzt (Mai 1943).

Reinhardts Mausoleum auf dem Westchester Hills Cemetery (2006)

Reinhardt versank bald in materieller Not. Wehklagen verschafft sich Prävalenz in seiner Seele: "Ich? Ich könnte darüber nur lachen. Aber mein Zwerchfell tut nicht mehr mit. Schon drüben habe ich alles, was mein geliebter Bruder (Edmund) aufgesparte, in schöne Sachen verpulvert. Das war unpraktisch aber herrlich. Es tut mir nicht leid. Die schönen Sachen sind beim Teufel. Er hat sie gestohlen in den Jahren des Heils. Er berief sich dabei nur auf seine Großmutter (die schon ungeduldig auf ihn und seine Mitbringsel da unten wartet)." Bitterer Hohn, (scheinbar nicht ausschließlich) bezogen auf Adolf Hitler, den Teufel, welcher seine Glückseligkeit ihm ohne Reue raubte, schwingt hier mit.

Foto: Anthony22 at the English language Wikipedia / CC BY-SA

Weiterhin heißt es: "Und die deutschen Professoren, seit jeher vom Teufel besessen, haben hurtig das Recht gefingert. Ich bin wie meine Vorfahren trockenen Fußes durchs Meer in die Wüste gewandert und habe sieben magere Jahre in Hollywood verbracht...Jetzt bin ich seit fünfviertel Jahren hier und suche Geld für schöne Sachen. Aber die Leute stecken es lieber in die "Lustige Witwe". Dabei kann einem schon das Lachen vergehen...Der Rest ist Kreide." Reinhardt beginnt jetzt resolut und ungeschminkt die "Wahrheit" des Abendlandes zu stigmatisieren.
Zwei Wochen nach seinem 70. Geburtstag, im September 1943, erleidet Max Reinhardt einen Schlaganfall, verbunden mit Sprachstörungen. Seine nächsten Verwandten versuchten immer noch, ihn beruflich zu reanimieren, führten akribisch Verhandlungen mit Theaterproduzenten. Am 9.Oktober, dem Tag des Jom Kippur-Festes, verbrachte Reinhardt, entwichen aus seinem Krankenbett, Stunden in der Synagoge. Dieser letzte Moment einer zeitlebens tief in ihm verborgenen Religiosität, einer ursprünglichen Kontemplation, nahm er auch in Zeiten der Assimilation an Kultur und Lebensstil seiner "Gastgeberländer" auf: " ...ich bin ein gottgläubiger und im eigentlichen Sinn frommer Mensch. Seit meiner Kindheit finde ich im Auf und Nieder des Lebens mein inneres Gleichgewicht immer wieder im Gebet."

Reinhardts Bonmot zur Thematik der Barbarei der Kultur, die auch vor dem Spiel nicht Halt macht, sollte einen Abschluss zur Gesamtübersicht bilden: "Aber heut muß man im Gegenteil die Wirklichkeit unwirklich machen, um sie ertragen zu können, denn wie kann man sprechen in einer Welt, in der keiner mehr lacht, es sei denn über den Jammer eines Anderen, in der keiner mehr weint, es sei den über das eigene Unglück."

verfasst von: Kai S.
Wahlgrundkurs „Jüdische Geschichte und Kultur“ 2001/2002

Quellennachweis:
Bildmonographie Max Reinhardt (rm 228). Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH Reinbek bei Hamburg, Juli 1975. 4. Auflage 18. - 22. Tausend Juni 1994 [Herausgeber: Kurt Kusenberg, Redaktion: Beate Möhring]
S.9, 10, 11, 12, 14, 16, 25, 26, 34, 44, 70, 71, 74, 75, 84, 98, 109, 117, 118, 121, 122, 129, 130, 132, 133
Kursiv geschriebene Textexzerpte (Zitate) beziehen sich auf Aussagen Reinhardt oder ihm nahe stehende Personen (Kollegen am Theater, Rezensenten, Kritiker) und sind - versehen mit einer bestimmten, hochgestellten Nummer - aufgelistet im Quellennachweis unter dem Stichwort ANMERKUNGEN S. 134-139. Das Zeugnis des Karl Kraus ist festgehalten unter der Rubrik ZEUGNISSE S. 146.