Marcel Reich-Ranicki

Marcel Reich-Ranicki bei der Verleihung des Börne-Preises 2007 in Frankfurt am Main

Marcel Reich-Ranicki, geboren am 2. Juni 1920 in Wloclawek an der Weichsel in Polen, gilt als der einflussreichste und umstrittenste deutschsprachige Literaturkritiker unserer heutigen Zeit.

Als dritter Sohn der deutschen Jüdin Helene, geborene Auerbach und des polnischen Kaufmanns jüdischen Glaubens David Reich, der 1928 bankrottging, wurde Reich-Ranicki von seinen Eltern zu wohlhabenden Verwandten nach Berlin geschickt, um ihm eine bessere berufliche Zukunft zu gewährleisten.

1938 machte er dort auch als Jude mit polnischer Staatsbürgerschaft am Fichte-Gymnasium sein Abitur, da zum Glück trotz vieler nationalsozialistisch orientierter Lehrer an seiner Schule alle jüdischen Schüler gleich behandelt werden mussten. An die Universität allerdings wurde er nicht mehr zugelassen und im Herbst 1938 verhaftet. Aufgrund der sogenannten Polenaktion, einer ethnischen Säuberung, kehrte er anschließend nach Polen zurück, wo er, in Warschau angekommen, die polnische Sprache neu erlernen und neue soziale Kontakte knüpfen musste, da er dort niemanden kannte.

Foto: Bonzo* / CC BY-SA

Nach dem deutschen Überfall auf Polen, auch „Polenfeldzug“ genannt, welcher am 1. September 1939 ohne vorherige Kriegserklärung begann, lernte Reich-Ranicki seine spätere Frau Teofila (Tosia) Langnas, geboren am 12. März 1920, kennen, deren Vater sich aufgrund der Vertreibung und Enteignung durch die Besatzungsmacht erhängte, woraufhin Marcel sich um sie kümmerte.

Sie heirateten am 22. Juli 1942, nachdem sie 1940 in das Warschauer Ghetto zwangsumgesiedelt wurden, wo 400 000 Juden hinter einer 18 km langen und 3 m hohen Mauer ihr Dasein fristeten. Reich-Ranicki wurde dort von der jüdischen Kultusgemeinde, „Judenrat“ genannt, als Übersetzer beschäftigt, zudem veröffentlichte er in der Ghettozeitung „Gazeta Żydowska“ unter dem Pseudonym Wiktor Hart Konzertrezensionen und arbeitete im Ghetto-Untergrundarchiv. Er ist durch diese Zeit des allgegenwärtigen Sterbens geprägt worden, er machte sich Überlebensmaßnahmen zur Gewohnheit, die er noch bis heute beibehält, zum Beispiel setzt er sich in Restaurants immer in Blickrichtung zur Tür oder möchte mit einer zweiten Rasur am Nachmittag ein negatives Auffallen seiner selbst vermeiden.

Am 3. Februar 1943 gelang ihm und seiner Frau die Flucht aus dem Warschauer Ghetto, wo er zuvor noch an einer Widerstandsaktion teilgenommen hatte. Sie flohen in den Warschauer Untergrund, wo sie einige Zeit ausharren mussten, bevor sie sich wieder der Öffentlichkeit zeigen konnten. Daraufhin trat Reich-Ranicki der Kommunistischen Partei Polens bei und besetzte danach zahlreiche politische Ämter. Anschließend wurde er aus „ideologischer Entfremdung“, so die offizielle Begründung, aus der Partei ausgeschlossen und musste für einige Wochen in Einzelhaft.
Während der Fluchtzeit der Reich-Ranickis wurden die Eltern David und Helene Reich in den Gaskammern von Treblinka ermordet, sein Bruder Alexander Herbert Reich starb am 4. November 1943 in Kriegsgefangenschaft, wo er erschossen wurde. Seine Schwester Gerda konnte glücklicherweise mit ihrem Mann Gerhard Böhm bereits 1939 nach London fliehen. Sie starb dort 2006 mit 99 Jahren.

1982 erzählte Marcel in einem Interview für eine Sendereihe im ZDF von dem Buch „Das siebte Kreuz“ der Autorin Anna Segher, welches ihm in der Zeit in der Einzelzelle Mut machte. "Unter dem Einfluß dieses Romans in der Gefängniszelle habe ich beschlossen, mich, wenn ich wieder frei komme, vielleicht doch mit Literatur zu befassen." Und so kam es dann auch, seine politische Karriere war beendet und er strebte eine neue an: die der Literatur. Er fing also an in einem Verlag zu arbeiten und für Zeitung und Hörfunk zu schreiben, sowie für polnische Leser zu übersetzen. 1958 stand er in der Bundesrepublik Deutschland zunächst vor dem Nichts, doch zahlreiche Kontakte, zum Beispiel zu Heinrich Böll, und sein umfangreiches Wissen über die deutsche Literatur ließen schnell seinen Bekanntheitsgrad steigen. Am 1. Januar 1960 wurde er schließlich von „Die Zeit“ als Literaturkritiker eingestellt und schrieb 14 Jahre lang für das Blatt, in der er zum „Großkritiker“ und „Literatur-Papst“ heranwuchs. 1973 übernahm er dann die Leitung des Literaturteils der „Frankfurter Allgemeinen“, die er 1988 wieder abgab.

Was seine jüdische Identität angeht, schrieb Marcel Reich-Ranicki in seinem Buch „Mein Leben“: „... Er, Günter Grass aus Danzig, wollte nämlich von mir wissen: 'Was sind Sie nun denn eigentlich - ein Pole, ein Deutscher oder wie?' Die Worte 'oder wie' deuteten wohl noch auf eine dritte Möglichkeit hin. Ich antwortete rasch: 'Ich bin ein halber Pole, ein halber Deutscher und ein ganzer Jude.' Grass schien überrascht, doch war er offensichtlich zufrieden, ja beinahe entzückt: 'Kein Wort mehr, Sie könnten dieses schöne Bonmot nur verderben.' Auch ich fand meine spontane Äußerung ganz hübsch, aber eben nur hübsch. Denn diese arithmetische Formel war so effektvoll wie unaufrichtig: Hier stimmte kein einziges Wort. Nie war ich ein halber Pole, nie ein halber Deutscher - und ich hatte keinen Zweifel, daß ich es nie werden würde. Ich war auch nie in meinem Leben ein ganzer Jude, ich bin es auch heute nicht.“

Dennoch fühlt er sich mit jüdischen Kulturtraditionen nach wie vor verbunden, nur ist eben an Stelle religiöser Schriften die Literatur getreten. Noch heute wendet er sich entschieden gegen jegliche Form des Antisemitismus und engagiert sich für jüdische Institutionen.

Marcel Reich-Ranicki hat für seine Arbeit als Literaturkritiker und die frühere Arbeit im politischen Bereich bis heute zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen erhalten, wie zum Beispiel die „Goldene Kamera“ oder das „Silberne Verdienstkreuz“. Den „Deutschen Fernsehpreis“, den er 2008 für sein Lebenswerk erhielt, lehnte er jedoch aufgrund seines schlechten Eindrucks vom deutschen Fernsehen mit den Worten „Ich nehme diesen Preis nicht an!“ entschieden ab. Seine Frau nahm den Preis aber später mit nach Hause.

verfasst von: Katja P.
Wahlgrundkurs „Jüdische Geschichte und Kultur“ 2008/09