Das Leben im ostjüdischen Schtetl

Die ostjüdischen ,,Schtetl" waren durch unvorstellbare Armut und Enge gekennzeichnet. Die Juden lebten hier von der übrigen Welt völlig abgeschlossen und verharrten in mittelalterlichen Lebensformen. Die Aufklärung und die Emanzipation der Juden in Westeuropa gingen an den Ostjuden spurlos vorüber. Trotzdem blieb das Schtetl stets ein Ort jüdischen Zusammenhalts. Innigste Frömmigkeit gab auch dem ärmsten Juden Würde und machte das Schtetl zu einem ,,in Lumpen gehülltes Königreich des Geistes". Im Schtetl entstand dadurch eine spezifische jüdische Kultur und Religiosität. Dennoch war für viele die Not erdrückend und sie versuchten ihr Heil in der Auswanderung (häufig nach Amerika) zu finden.

Die Familienstruktur

Ostjüdische Festtracht
Ostjüdische Festtracht

Die Familie bildete das Zentrum jüdischen Lebens. In der Familieneinheit spielten der Vater und die Mutter sich ergänzende Rollen. Es war gut viele Kinder zu haben. Je mehr Kinder man hatte, desto mehr Segen hatte man, glaubten die Juden. Man war der Auffassung, dass Kinder zeigten, dass die Ehe „gesegnet“ ist. Kinder waren erwünscht. Jungen jedoch mehr als Mädchen, denn die Söhne konnten berühmte Gelehrte werden. Das Mädchen war ebenfalls ein Segen und erhielt die ganze Zuneigung und Sorge, die alle Kinder erfahren sollten.

Im Mittelpunkt der Familie stand der Vater. Er hatte die offizielle Autorität und das letzte Wort in wichtigen Angelegenheiten, das heißt also zum Beispiel bei wichtigen Entscheidungen.

Der Vater hielt sich selten zu Hause auf. Er konnte einen großen Teil seiner Zeit in der Synagoge verbringen, wo er mit seinesgleichen studierte. Er konnte aber auch ein reisender Kaufmann oder ein umherziehender Handwerker sein.

Die Aufgabe des Vaters war die Vermittlung religiös–traditioneller Bräuche an die Kinder sowie die Vermittlung des Kultischen. In der Abwesenheit des Vaters vertrat ihn die Mutter. Sie trug die Sorge für die ganze Familie. Dies begann mit der Einhaltung der strengen Religionsgesetze und deren Weitergabe an die Kinder. Die Frau des Hauses war die Mutter der ganzen Familie, einschließlich des Vaters.

Ziel der Frau war es Glück in das Haus zu bringen und Kinder zu gebären. Sie kümmerte sich um die häusliche Erziehung der Kinder. Sie vermittelte ihnen die Grundbildung und Grundlagen der Religion. Außerdem verdiente die Frau oft den Lebensunterhalt der Familie mit. Die meisten Familien waren arm und in vielen Fällen verdiente der Mann zu wenig oder ging gar religiösen Studien nach, die oft nichts einbrachten. Deshalb arbeiteten viele Frauen als Markthändlerinnen, Krämerinnen oder Hausiererinnen. Alle häuslichen und weltlichen Pflichten waren ihre Domäne. Ihre Aufgabe ist es, sicherzustellen, dass die Speisegesetze eingehalten wurden. Der ganze komplizierte Ablauf der religiösen Gesetzesbefolgung im Haushalt unterlag ihrer Obhut.

Von außen gesehen, nahm die Frau dem Mann gegenüber eine mindere Stellung ein. Dies war auch meistens in der Praxis so. Man war der Auffassung, dass ein vollständiger Jude ein Erwachsener mit Weib und Kindern ist. Deshalb glaubten die Juden, dass ein Mann, der keine Frau hat, nicht „vollständig ist und dass eine Frau ohne Mann keine „vollständige“ Frau ist.

Während der Mann den Gottesdienst in der Synagoge leistete, erfüllte die Frau die ihr von Gott gestellten Aufgaben und machte das Haus zum Zentrum des religiösen Lebens. Da diese religiöse Pflicht eine ungeheure Belastung darstellte, war die Frau von anderen religiösen Vorschriften befreit.

Zwischen den Eltern, die als tate-mamme bezeichnet wurden, und den Kindern existierten eine Menge Rechte und Pflichten, auf die sich beide ausdrücklich und offen bezogen. Auch die Eltern hatten gewisse formelle Verpflichtungen gegenüber ihren Kindern. Die Söhne und Töchter konnten von ihren tate-mamme erwarten, dass sie für den Unterhalt aufkommen, ihnen Unterricht in religiösen Dingen ermöglichen und sie auf das Leben als Erwachsene entsprechend vorbereiten.

Für ein Mädchen war diese Vorbereitung eher eine praktische als spirituelle und sie schloss die Vermittlung in eine Ehe mit ein. Dem Sohn schuldeten sie eine Reihe von Zeremonien, die mit der Beschneidung begannen und weiterhin, dass ihm soviel wie möglich über und aus der Tora beigebracht wurde. Außerdem konnte er von seinen Eltern Hilfe bei der Suche nach einer Frau erwarten. Bis der Junge die Bar-Mizwa-Feier hatte, trug sein Vater die Verantwortung für ihn.

Die Pflichten der Kinder gegenüber den Eltern begannen mit Gehorsam und Respekt. Jede Kritik am Vater stellte Respektlosigkeit dar. Die Verpflichtungen des Nachwuchses ergaben sich weitgehend aus ihrer Rolle als „Verlängerung“ der Eltern. Die Kinder standen unter ständigem Druck, ihren tate-mamme keine Schande zu machen. Zu den formellen Pflichten der Kinder gegenüber den Eltern gehörte das Unterhalten der alten Eltern durch die Kinder. Neben dem Verständnis und der Einübung der religiösen Vorschriften und Sitten lernten die Kinder in der Familie praktizierte Nächstenliebe. Am Sabbat, beispielsweise, nahm man arme Leute oder Reisende auf, verköstigte sie und bereitete ihnen Freude. Das war aber auch oft an anderen Tagen so.

Zusammenfassend kann man also sagen, dass die Familie eine sehr wichtige Rolle im Leben eines Juden oder einer Jüdin einnimmt, da sie viele Grundlagen für das spätere Leben legt.

Das jüdische Erziehungswesen

Ostjuden
Ostjuden in Wien 1915

Die Grundlagen der Erziehung wurden in der Familie gelegt. Die Erziehung richtete sich nach bestimmten Eckpfeilern. Diese lauten: Gehorsam, Gesetzestreue und Pietät. Glauben und Handeln sollten eine Einheit bilden, die in der Familie begann. Deshalb war die Ausführung der Lehren der Tora und der traditionellen religiösen Vorschriften eng verbunden mit der Achtung gegenüber den Eltern, die dann auf Lehrer, Meister, Gemeindevorsteher, Gelehrte und andere Respektpersonen übertragen wurden. Die Kinder durften den Eltern keine Vorwürfe machen oder sie kränken, auch wenn sie ihnen gegenüber ungerecht waren. Wenn die Kinder sich anders verhielten oder merken ließen, dass sie sich lediglich als Gegenleistung für die Wohltaten der Eltern so verhielten, galten sie im jüdischen Sinne als nicht erzogen.

Von dem traditionellen, religiös bestimmten Schulwesen blieb die Tochter weitgehend ausgeschlossen. Ein ausführliches Torastudium oder gar eine Talmudlektüre wurde bei den Mädchen für nicht nötig gehalten. Nur manchmal gingen einige Mädchen in den Mädchen–Cheder, wo es ein wenig Jiddisch lesen und schreiben lernte. Es lernte auch etwas Hebräisch lesen, denn dafür wurden die gleichen Schriftzeichen verwendet, aber das Lesen erfolgte mechanisch und der Text blieb unverstanden. Manchmal lernten die Mädchen zusammen mit den Jungen, manchmal in einem separaten Raum. Ihre tägliche Schulzeit war viel kürzer als die der Jungen, oft nicht länger als zwei Stunden, denn sie mussten nach Hause und der Mutter helfen oder sich um die jüngeren Geschwister kümmern. Für sie ist das Lernen ein Randgebiet, während es für den Jungen das Ziel und damit Hauptbeschäftigung ist.

Für den Sohn hingegen begann mit dem Erreichen des 4. Lebensjahres die außerhäusliche Erziehung. Der Vater geleitete seinen Sohn beim ersten Schulgang in den Cheder, das Zimmer. Diese befand sich in Osteuropa meist in einem einstöckigen Holzhaus. Vielfach wurde dieses Ereignis auch zeremoniell und feierlich gestaltet. Die Kinder saßen von morgens bis abends im Cheder und beschäftigten sich mit religiösen Büchern. Die Jungen lernten Bibel lesen, hebräisch schreiben und beten. Sie lernten aber auch die Grundrechenarten sowie die Grundsätze jüdischer Moral.
Beim Lesen wurde gesungen oder im Singsang Texte gelesen. Man war der Auffassung, dass dies ein besonders geeignetes Mittel zur Konzentration war.
Beaufsichtigt wurden die Kinder vom „Melamed“, „einem der das Lernen anregt“. Er war wissenschaftlich nicht ausgebildet. In der Regel lebte er mit seiner Familie im Haus des Cheder. Er wurde von den Eltern dafür bezahlt, dass er den Knaben so viel wie möglich beibrachte und das auch so schnell wie möglich. Er stand unter Erfolgszwang und war deshalb meistens sehr streng. Die Eltern sorgten dafür, dass die Kinder früh den Ernst des Lebens kennen lernten, um es so später besser bewältigen zu können. Faulheit und Trödelei wurden nicht geduldet. Die Prügelstrafe war deshalb nicht selten. Häufig wurde der Cheder–Aufenthalt zur Qual für die Kinder, denn viele Eltern konnten aufgrund ihrer Armut nicht immer auf die Fähigkeiten des Melamed achten.

Es gab eine bestimmte Schule für verwaiste Kinder oder für Kinder aus völlig mittellosen Elternhäusern. Diese Schule nannte man Talmud-Tora Schule. Im selben Haus oder in der Nähe befand sich das Bet–ha–Midrasch, das Lehrhaus der Gemeinde, in dem die religiösen Studien fortgesetzt werden konnten.
Mit 13 Jahren konnte der Sohn als Bar Mizwa (Gebotspflichtiger) in die Gemeinde aufgenommen werden, denn er hatte in diesem Alter so viel in religiösen Dingen gelernt und das eröffnete ihm diese Möglichkeit. Dieser Tag leitete das Erwachsensein ein. Er wurde zu Hause und in der Synagoge gefeiert. Der Bar Mizwa wurde zur Toravorlesung gerufen und er durfte das erste Mal die Gebetsriemen anlegen.

Jüdischer Markt
Jüdischer Markt in Krakau. Radierung Mitte 19. Jh.

Nach dem Abschluss des Cheders mußte entschieden werden, ob der Junge das Talent für ein lebenslanges Studium besitzt oder ob er ins Geschäftsleben eintreten muss. Ist der Junge befähigt für das Studium, kam er auf die Jeschiwa, eine Art theologischer Hochschule, und war nun ein Jeschiwe-Bocher ( ,,Jeschiwa-Junge" ). Nur wenig Eltern konnten das Studium finanzieren. Die Lösung dieses Problems beweist, welchen Stellenwert das religiöse Studium im Schtetl hatte, denn die Gemeinde übernahm nicht nur die Unterhaltung der Jeschiwa, sondern auch die der ärmeren Studenten . Die Ausbildung beschränkte sich fast ausschließlich auf die traditionellen Texte des Talmud und die rabbinischen Gesetzessammlungen. Profane Fächer waren verpönt.

Durch die Förderung begabter armer Studenten bestand für sie die Chance eines sozialen Aufstiegs, da die Absolventen der Jeschiwot ein hohes Prestige in den Gemeinden besaßen. Reiche Familien waren durchaus bereit, ihre Tochter mit einem armen, aber gelehrten Mann zu verheiraten und diesem ein lebenslanges Studium zu finanzieren. Weil die Bildung im Schtetl einen hohen Stellenwert einnahm, gehörten die Gelehrten zur Oberschicht, den Schejnen Jidn. Ein idealer Schejner war gelehrt und vermögend; er war wohltätig und sein soziales Verhalten entsprach den Normen der ostjüdischen Kultur. In der Unterschicht, der Proste Jidn, zeigten sich die gleichen Abstufungen wie in der Oberschicht. Die Rangfolge reichte vom selbständigen Handwerker, Kleinhändler, Hausierer und Schankwirt bis hin zu den Ärmsten, den Wasser- und Lastenträgern, Musikanten, Totengräbern, Bettlern und den häufig beschriebenen ,,Luftmenschen".

verfasst von: Anja B.
Wahlgrundkurs „Jüdische Geschichte und Kultur“ 2001/2002

Quellen:
Geschichte der Ostjuden; Heiko Haumann; Deutscher Taschenbuch Verlag
Das Schtetl , die untergegangene Welt der osteuropäischen Juden; Mark Zborowski, Elisabeth Herzog; Verlag C.H. Beck München
Leben im Schtetl; Roman Vishniac; Bechtermünz Verlag