Karl Kraus
Der österreichische Publizist und Schriftsteller gilt mit seiner Sprach- und Kulturkritik als einer der bedeutendsten Analytiker des Jahrhunderts. Unbestechlichkeit und Wahrhaftigkeit des Wortes waren für ihn die höchsten kulturellen Werte.
Karl Kraus wurde am 28. April 1874 in Jitschin (Böhmen) als neuntes Kind von Jakob Kraus, einem Kaufmann, und seiner Frau Ernestine, geborene Kantor, geboren. 1877 zog die Familie nach Wien um, wo er die Volkshochschule und das Franz-Joseph-Gymnasium besuchte. Bereits als Gymnasiast spielte er leidenschaftlich gern Theater und war oft in den Literaturcafes der österreichischen Hauptstadt anzutreffen. Nach dem Abitur 1892 - er hatte bereits begonnen, in verschiedenen deutschen und österreichischen Zeitschriften Artikel zu veröffentlichen - studierte Kraus einige Semester Jura an der Universität in Wien. Später wechselte er die Fakultät und studierte Philosophie und Germanistik, ohne das Studium jedoch abzuschließen. Schon während seines Studiums veröffentlichte er literaturkritische Beiträge, u. a. in der Zeitschrift "Die Gesellschaft". Er versucht sich als Schauspieler, Regisseur und Vortragskünstler, ist mit Vertretern der Gruppe "Jungwien" und mit Arthur Schnitzler sowie Hugo von Hoffmannsthal befreundet.
Doch bald wandte Kraus sich von dem Verfall der Gruppe ab. Als Verspottung dieser, erschien 1869 seine erste große satirische Schrift "Die demolierte Literatur" und arbeitet als Journalist für verschiedene Zeitschriften weiter, ehe Kraus seine eigene Zeitschrift "Die Fackel" 1899 gründet.
Die neue Zeitschrift gab ihm die langersehnte Möglichkeit, ohne Eingriffe durch eine Redaktion oder einen Verleger arbeiten zu können. Mit zumeist satirischen Glossen, Epigrammen, Essays, Aphorismen und Gedichten entlarvte er das Spekulantentum ebenso wie die Bestechlichkeit der Presse und die Cliquenwirtschaft im kulturellen Leben. Zielscheibe seiner Kritik war insbesondere die "Verlotterung" der Sprache, die für Kraus Ausdruck wie Ursache der "geistigen Unwahrhaftigkeit" der Gesellschaft war. "Die Fackel" gedieh so zu einem außergewöhnlichen Kultur- und Zeitdokument.
Als sich das liberale jüdische Bürgertum im Zuge der Affäre um den französischen Offizier Alfred Dreyfus um die Jahrhundertwende immer mehr dem Zionismus zuwandte, trat Kraus im Oktober aus der jüdischen Religionsgemeinschaft aus. Nach dem Tod des Vaters 1900 verließ er die Familie und bezog eine eigene Wohnung in Wien und war finanziell unabhängig durch eine bescheidene Familienpension. Im selben Jahr lernte Kraus die junge Schauspielerin Annie Kalmar kennen.
Anfang des Jahrhunderts überzog ein Wiener Journal die befreundete Schauspielerin mit einer Rufmordkampagne. Als sie starb, reiste er nach Norwegen und ihm wurde bewusst, wie sehr die Intimsphäre durch die Sensationslust und Geldgier der Presse bedroht war.
Diese Erkenntnis formulierte er in zahlreichen Aufsätzen (1902- 1907), die 1908 unter dem Titel "Sittlichkeit und Kriminalität" erschienen. Zum erstenmal ging Kraus dabei im Interesse einer Systemanalyse über bloße Tagesereignisse hinaus. Der Justiz warf er vor, sich in Fragen der Sexualmoral den Normen der Gesellschaft zu unterwerfen und das "gesunde Volksempfinden" zum Maßstab zu machen. Er machte sich aber auch für eine Strafrechtsreform und die Legalisierung der Homosexualität stark.
Karl Kraus hielt auch eine Vielzahl von Vorlesungen und rezitierte Schriften von Shakespeare, Nestroy, Offenbach u. a. aber auch eigene Werke in Wien, Prag, München, Berlin und Paris.
Eine Polemik gegen "die öffentliche Verkommenheit des deutschen Kunstgefühls" stellte sein Aufsatz "Heine und die Folgen" (1910) dar, der ein Beitrag zur Diskussion des sogenannten Form-Inhalt-Problems war: Kraus warf Heine vor, in die deutsche Sprachkultur eine Form eingeführt zu haben, die den Inhalt nur verhüllt wiedergibt. Der Dichter werde damit zum Vorläufer des modernen, von Kraus so verachteten Feuilletons, einem kulturellen Teil der Zeitung. Seine eigene Auffassung von Kunst entsprach eher den Ansichten Johann Nepomuk Nestroys, den Kraus in seinem Aufsatz "Nestroy und die Nachwelt" (1912) würdigte: eine Einheit von Inhalt und Form, die aus einer klaren Sprache entsteht.
Ab 1911 war er der einzige Autor der "Fackel", da er nicht bereit war, Kompromisse einzugehen. 1911 trat zum Katholizismus über, doch er trat zwölf Jahre später wieder aus der Kirche aus, u. a. wegen deren Haltung im Krieg. Im Jahre 1913 lernte er Sidonie Nadherny von Borutin kennen, der er mehrmals erfolglos einen Heiratsantrag machte, doch sie blieben ein Leben lang freundschaftlich verbunden.
Während des Ersten Weltkrieges arbeitete Kraus an dem satirischen Antikriegsstück "Die letzten Tage der Menschheit" mit seinen 220 Szenen und mehr als 500 Akteuren nahm es spätere Formen des Dokumentartheaters vorweg: Über ein Drittel des Textes ist aus Zitaten montiert. Der überzeugte Pazifist beklagte darin das Versagen der moralisch Verantwortlichen, das unweigerlich zum Weltuntergang führte. Eine Menschheit, die ihr Überleben durch die Macht der Technik zu sichern versucht, steuere ihrer völligen Vernichtung entgegen. Daraufhin wurde die "Fackel" wegen seiner rigorosen Kritik an der österreichischen Kriegspolitik wiederholt konfisziert.
Unbequem blieb Kraus auch nach dem Krieg, alarmiert durch die Vorboten des aufziehenden Nationalsozialismus. Zielscheibe seiner Polemik waren der Zeitungskönig Bekessey und der führende Berliner Theaterkritiker Kerr, dem er dessen kriegshetzerischen Gedichte vorhielt. Dies wurde im Drama 1928 "Die Unüberwindlichen" niedergeschrieben. Mit den Aufsatzsammlungen "Literatur und Lüge" stellt Kraus 1929 nochmals die moralische Verantwortung des Schriftstellers heraus. 1932 nahm er an einem internationalen Pazifisten-Kongress in Amsterdam teil. Immer eindringlicher warnte er vor der drohenden "Entmenschlichung" nach einer möglichen Machtergreifung Hitlers, wie etwa in der Vorlesung "Hüben und Drüben" , wo er auch die sich mit den Nationalsozialisten arrangierte Sozialdemokratie attackierte.
Trotz ernster Herzschwächen arbeitete Kraus noch 1933 an der Schrift "Die dritte Walpurgisnacht" , eine Analyse und Entlarvung der Nationalsozialisten und ihrer Sympathisanten. Von seiner langjährigen Freundin Helene Kann gepflegt, starb Karl Kraus im Alter von 62 Jahren am 12. Juni 1936 in Wien.
Seine Aufsatzsammlung "Die Sprache" zur Theorie der deutschen Sprache erschien postum 1937. Als Gegenpol zu seinen sprachkritischen Arbeiten in der "Fackel", skizzierte Kraus hier den Entwurf einer gelungenen Sprache, die ihrerseits Gestaltungskraft besitzt.
1952 wurde "Die dritte Walpurgisnacht" veröffentlicht, die mit dem Satz beginnt: "Mir fällt zu Hitler nichts ein." Sein Schweigen erklärte er mit der Ohnmacht der Satire gegenüber der Wirklichkeit, zu der diese nicht mehr durchdrang: "Kein Wort das traf." Aus diesem Grund hatte Kraus die ursprünglich für 1933 in der "Fackel" geplante Veröffentlichung rückgängig gemacht.
verfasst von Sandra J.
Wahlgrundkurs „Jüdische Geschichte und Kultur“ 2000/2001
Foto: Haeferl / CC BY-SA