Stolpersteine
"Hier wohnte Max Glasberg"
"Wenn du so einen Stein entdeckst und liest, was drauf steht, musst du zwangsläufig eine Verbeugung davor machen.“ Das sagte gestern der Kölner Künstler Gunter Demnig nach bewegenden Minuten in der Döbelner Bahnhofstraße 73. Zuvor hatte der Bildhauer auf dem Gehweg direkt vor einem Bäckerladen zwei Stolpersteine verlegt.
Man stolpert nicht im wahrsten Sinne des Wortes darüber, sondern stößt darauf. „Hier wohnte Max Glasberg, Jahrgang 1920. Ermordet 1940 im KZ Sachsenhausen“ und „Hier wohnte Karl Glasberg, Jahrgang 1922, deportiert 1943, ermordet in Auschwitz“, steht auf den Messingplatten. Und noch drei weitere Stolpersteine wurden gestern verlegt, zwei in der Bahnhofstraße 51 für Dr. David Gutherz und Dr. Helene Gutherz sowie einer in der Theaterstraße 4 für Marie Rothstein.
Demnig leistet mit seinem Projekt Stolpersteine Erinnerungsarbeit. Er erinnert an die Vertreibung und Vernichtung der Juden, Sinti und Roma, Oppositioneller, Homosexueller, Zeugen Jehovas und Euthanasieopfern im deutschen Faschismus. Die Steine in Döbeln sind Juden gewidmet, die in den jeweiligen Häusern gewohnt haben, vor denen sich jetzt die kleinen Messingplatten im Fußweg befinden.
„Anfangs habe ich gedacht, die Idee zu diesem Projekt ist eine rein konzeptionelle Geschichte, die dann in der Schublade verschwindet. Mittlerweile sind 11 500 Steine verlegt“, so Demnig. Für den Künstler sind sechs Millionen ermordete Juden in Europa noch immer eine „abstrakte Größe, auch wenn man Auschwitz gesehen hat“. Erst wer sich direkt mit den betroffenen Familien, den einzelnen Schicksalen befasst, für den werde das unvorstellbare Leid greifbar.
Die Schüler des Lessing-Gymnasiums beschäftigen sich unter Leitung des Geschichtslehrers Michael Höhme im Wahlgrundkurs „Jüdische Geschichte und Kultur“ seit Jahren mit der Judenverfolgung in Döbeln. Und Höhme war es, der die Stadt auf Gunter Demnig und seine Stolperstein-Aktion aufmerksam machte. Nach der gestrigen Stein-Verlegung, bei der zahlreiche Gymnasiasten dabei waren, Musikstücke und einen Tanz vortrugen, schilderte Höhme im Theaterfoyer das Schicksal der Familien Glasberg und Gutherz. Er zeigte am Beispiel auf, wie gut integriert die Juden im Deutschland der 1920er Jahre waren und wie sie dann innerhalb kurzer Zeit Boykott, Stigmatisierung, Gewalt, Deportation und Massenmord über sich ergehen lassen mussten. Höhme berichtete auch von der überlebenden und heute in Schweden lebenden Ruth Glasberg. Sie sei nach Kriegsende in Döbeln gewesen und hier auf eine Mauer des Schweigens gestoßen. „Die heutigen Stolpersteine sind auch eine späte Wiedergutmachung dieses Schweigens“, so Höhme.
Bürgermeister Axel Buschmann ermutigte die Lehrer und Schüler, das Geschichtsprojekt fortzuführen. „Durch die sehr konkreten Schilderungen ist das Geschehene nicht mehr abstrakt und weit weg, sondern es wird persönlich. Die Menschen, über die geschrieben wird, lebten in Häusern, an denen wir häufig vorbeigehen.“
Gunter Demnig indes machte sich auf in die nächsten Stolperstein-Orte, Zeitz und Altenburg. Er will noch in vielen Städten daran erinnern, was passiert ist: „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist.“
Döbelner Allgemeine Zeitung
Olaf Büchel, 26.05.2007
Stolpersteine
- Der Künstler Gunter Demnig betreibt das Projekt Stolpersteine seit 1993 und hat damit in Köln begonnen.
- Mittlerweile sind 11 500 Steine in 237 Kommunen Deutschlands und sieben Kommunen Österreichs verlegt. In Budapest wurde 2007 mit der Aktion begonnen. Auch in den Partnerstädten Heidenheim und Unna sowie in der Nachbarstadt Freiberg gibt es Stolpersteine.
- Bei den Stolpersteinen handelt es sich um Betonsteine der Abmessung zehn mal zehn mal zehn Zentimeter mit verankerter Messingplatte. Sie werden glatt vor den ausgesuchten Häusern im öffentlichen Straßenraum auf Dauer verlegt.
- Finanziert werden die Steine über Patenschaften, also durch private Personen, Vereine, Parteien oder Stiftungen. In Döbeln haben zur Finanzierung der Traditions- und Förderverein Lessing-Gymnasium Döbeln e.V, Klaus Jacob, Friedrich Wilhelm Prünte und Ulrich Rudolph zur Finanzierung beigetragen.
Stolpern ist wichtig
STANDPUNKT von Olaf Büchel (DAZ)
Es geht nicht darum, den Bewohnern von Döbeln ein kollektives Schuldgefühl zu vermitteln. Es geht darum, zu erinnern – das Schicksal der Döbelner Juden nicht zu vergessen. Nicht nur so lange es ewig Gestrige gibt, die die Judenvernichtung anzweifeln oder gar leugnen, machen Stolpersteine, wie sie gestern in der Stadt verlegt wurden, Sinn.
Denn was ist neben Projekten, welche die Schüler des Lessing-Gymnasiums betreiben, die der Bildhauer Gunter Demnig und andere Künstler ins Leben rufen, die von Stadt und Staat unterstützt werden, leider auch Döbelner Realität? Zum Beispiel, dass sich eine Backwarenverkäuferin darüber beklagt, dass ihre Kunden für ein paar Minuten nicht freien Zugang zum Geschäft hatten, weil sich eine Menschentraube um die frischen Stolpersteine bildete. Und dass die Initiatoren des Projektes im Vorfeld der Steinverlegung lieber nichts darüber in der Zeitung lesen wollten, weil Störungen durch Rechtsradikale vermieden werden sollten. Gleichgültigkeit und Angst vor neobraunem Mob und den noch gefährlicheren Hintermännern schleichen sich ein.
Es kann eigentlich nicht genug Stolpersteine geben.
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Gegen das Vergessen
Fast könnte man sie übersehen, die kleinen Messing-Täfelchen, die seit gestern vor drei Döbelner Häusern in den Boden eingelassen sind. Dabei erzählen sie Geschichte. Es ist die Geschichte von fünf Döbelner Juden, die vor über 60 Jahren Opfer des Nationalsozialismus geworden sind – verfolgt, deportiert oder in den Selbstmord getrieben.
Die quadratischen Tafeln mit der Aufschrift „Hier wohnte ...“, den Namen und Sterbedaten der Menschen sind Teil des Projektes „Stolpersteine“, mit dem der Kölner Künstler Gunter Demnig seit Jahren in ganz Deutschland und Europa Erinnerungen an diese Schicksale erhalten will.
In Döbeln stieß Michael Höhme, Geschichtslehrer am Lessing-Gymnasium, im vergangenen Jahr auf Demnigs Projekt. Bereits seit dem Schuljahr 1998/99 bietet Höhme in seiner Schule den Wahlgrundkurs „Jüdische Geschichte in Döbeln“ an und versucht darin besonders die Geschichte der Döbelner Familien Gutherz und Glasberg zu rekonstruieren (siehe Kasten).
„Die ganze Tragödie der Judenverfolgung spiegelt sich im Schicksal dieser Döbelner Familien wider“, sagte Höhme gestern im Rahmen der offiziellen Übergabe der Gedenktafeln in der Bahnhofstraße. Die musikalisch und schauspielerisch von Schülern des Gymnasiums untermalte Veranstaltung brachte rund 40 zum Teil geladenen Gästen den Hintergrund der Projektes nahe.
Auch der Künstler Gunter Demnig selbst sprach über sein Werk und prägte das passende Motiv: „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist.“
Zum Abschluss der Veranstaltung dokumentierte ein bebilderter Vortrag von Michael Höhme im Foyer des Theaters noch einmal die Geschichte hinter den Steinen.
Persönlich einen Eindruck von den „Stolpersteinen“ kann sich seit gestern jeder Passant in Döbeln machen. Die fünf Gedenktafeln sind alle in der Innenstadt zu finden. Zwei Tafeln vor der Bahnhofstraße 72 erinnern an Karl und Max Glasberg, zwei Tafeln vor der Bahnhofstraße 51 an Dr. David und Dr. Helene Gutherz und eine weitere Tafel vor der Theaterstraße 4 an Marie Rothstein.
Döbelner Anzeiger
Henry Berndt, 26.05.2007
Jüdische Familien in Döbeln zur NS-Zeit
- Die Familie Glasberg wohnte und arbeitete jahrzehntelang in der Döbelner Bahnhofstraße 73. Nach dem frühen Tod der Eltern wurden ihre drei Kinder Ruth, Max und Karl 1934 von der Familie Gutherz aufgenommen.
- Die zunehmenden Repressalien gegen die Familie veranlassten sie 1936 zur Flucht nach Berlin. Die Kinder ließen sie zunächst zurück, holten sie jedoch nach, als diese vom Döbelner Realgymnasium ausgeschlossen wurden.
- Nach der Verhaftung von Karl und Max Glasberg entschied die Familie Gutherz, Ruth allein nach Schweden zu schicken. Sie überlebte so als einzige.
- Die Brüder Glasberg sowie David Gutherz kamen im Konzentrationslager ums Leben. Helene Gutherz entzog sich durch Selbstmord ihrer Deportation.
„Stolpern mit dem Herzen“
TAGESGESPRÄCH mit Gunter Demnig, Kölner Künstler und Vater des "Stolperstein"-Projektes
Das europaweite Projekt in Erinnerung an Juden musste sich gegen Widerstände durchsetzen.
Herr Demnig, ist „Stolpersteine“ wirklich ein passender Name bei einem so sensiblen Thema?
Ein Schüler prägte vor einiger Zeit mal die treffendste aller Antworten auf diese Frage: Über diese Steine stolpert man nicht mit den Füßen, sondern in erster Linie mit dem Kopf und mit dem Herzen. Da gibt es nichts hinzuzufügen.
Hören Sie aber nicht oft den Vorwurf, Sie trampelten auf diese Weise nur weiter auf den Opfern herum?
Am Anfang des Projektes 1993 wollte ich noch einfach klassische Gedenktafeln an den Häusern anbringen, stieß damit jedoch auf massiven Widerstand bei den Eigentümern. Daher entschied ich mich schließlich für die Steine. Ich sehe es heute anders herum: Jeder, der einen solchen Stein entdeckt und seine Aufschrift lesen will, macht unweigerlich eine Verbeugung vor den Opfern.
Wie viele dieser „Stolpersteine“ liegen heute schon vor deutschen Häusern?
Heute sind es rund 11500 Steine in Deutschland, einige auch schon in Österreich und Ungarn. Ich habe fast alle eigenhändig verlegt.
Wird das Projekt weitergehen?
Solange mein Kreuz noch mitmacht, werde ich weitermachen. Allerdings ist das alles nur möglich durch Vereine und andere Unterstützer in den Städten. Die Vorschläge für neue Steine kommen schließlich nicht von mir selbst.
Das Gespräch führte Henry Berndt
LGD-Fotos: Matthias Müller
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Bitte lesen Sie auch: Juden in Döbeln von Michael Höhme
Bitte besuchen Sie: http://www.stolpersteine.com