Schwierigkeiten mit der Wahrheit
Zur Geschichte jüdischer Bürger der Stadt Döbeln in der Zeit des Nationalsozialismus
Döbeln + Mai 1938 + Realgymnasium - Mitten im Unterricht öffnet sich die Tür. Max Glasberg, Schüler der Obersekunda, entschuldigt sich für die Störung, bittet seine jüngere Schwester Ruth mitzukommen. Der Rektor des Realgymnasiums hatte die Schüler zu sich bestellt, um ihnen mitzuteilen, dass sie mit sofortiger Wirkung die Schule zu verlassen haben. Rektor Gottfried K., wie zahlreiche Lehrer des Realgymnasiums Mitglied der NSDAP und SA-Obersturmbannführer, der natürlich auch heute wieder in Uniform zum Dienst gekommen war, hatte ein wichtiges Ziel erreicht. Gleich nach seinem Amtsantritt am 01.04.1938 hatte er angewiesen, dass jüdische Schüler grundsätzlich in der ersten Reihe zu sitzen haben. Man könne deutschen Kindern nicht zumuten, so seine Begründung, dass sie neben Juden sitzen. Die „letzten jüdischen Elemente“, konnte er nun melden, waren wenige Wochen nach seinem Amtsantritt aus der Schule gewiesen. Für die Kinder der Familie Glasberg brach an diesem Tag eine Welt zusammen.
Erzählt werden soll hier die Geschichte einer jüdischen Familie, die jahrzehntelang in Döbeln gewohnt und gearbeitet hat, die am Ende der 30er Jahre endgültig von hier vertrieben wurde, die die Nationalsozialisten fast völlig auslöschten und für deren Schicksal man sich –so unsere feste Überzeugnung- bisher zu wenig interessierte.
Die Familie Glasberg, die in der Döbelner Bahnhofstraße im Haus Nr. 73 wohnte, kann, wenn wir in die zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts zurückgehen, als glückliche Familie bezeichnet werden. Der Vater, Samuel Glasberg, betrieb einen Rohprodukthandel. Er kaufte von Döbelner Fabriken Schrott, Altpapier u.ä. und führte diese Materialen ihrer Wiederverwertung zu. Der Betrieb der Glasbergs befand sich in der Theaterstraße Nr. 4, hier hatte man im Hinterhof Lagerhallen gebaut und auch eine Papierpresse installiert. Noch bis in die Nachwendezeit konnten aufmerksame Beobachter den Namenszug der Familie am Haus in der Theaterstraße lesen.
Die Glasbergs waren eine wohlhabende Familie, sie gehörten zum Mittelstand der Kleinstadt Döbeln. Zu Hause las man den „Döbelner Anzeiger“, aber auch die „Frankfurter Allgemeine“. Deutschland als Heimat, das war für die Glasbergs eine Selbstverständlichkeit. Der Vater der Familie hatte im I. Weltkrieg für sein Land gekämpft, war mit Auszeichnungen für besondere Tapferkeit nach Hause gekommen. In Döbeln fühlte man sich wohl, hier hatte man eine Existenzgrundlage, hier gingen die Kinder zur Schule, hier hatte man seine Freunde. Für die Familie war es normal, ihre Stadt zu unterstützen, so spendete man auch für den Neubau des Stadtbades.
Nie empfanden die Glasbergs bei der Integration in das Gemeinwesen ihre jüdische Religion als Hindernis. Das religiöse Leben der Juden in Döbeln fand fast ausschließlich in den Familien statt. In Ermanglung einer Synagoge und weil man sowieso eher dem reformierten als dem orthodoxen Judentum zugeneigt war, pflegte man die jüdischen Traditionen zu Hause. So wurden immer am Freitagabend die Kerzen zum Sabbat angezündet, oft gab es eine besondere Spezialität der jüdischen Küche, gefüllten Karpfen. Auch wenn den Kindern das Fasten nicht leichtfiel, wurden die Hohen Feiertage Jom Kippur und Rosch Haschana eingehalten. Ende März und Anfang April wurde das jüdische Pessachfest begangen. Hierfür hatte man besonderes Geschirr aufbewahrt, man aß, wie dies im Talmud vorgeschrieben ist, nur ungesäuertes Weizenbrot, die bekannten Mazzen.
Besonders dem Vater war es wichtig, dass seine drei Kinder, die Tochter Ruth und die zwei älteren Brüder Max und Karl, mit den jüdischen Überlieferungen vertraut gemacht werden, sie sollten teilhaben an einer jahrhundertealten Tradition. So bemühte man sich auch um einen jüdischen Religionsunterricht für die Kinder. Eigens für die drei Zöglinge der Familie Glasberg kam einmal wöchentlich ein Rabbiner aus Leipzig, der die Kinder in die Grundlagen des jüdischen Glaubens einführen sollte, man lernte Gebete wie das „Schma Israel“, auch etwas Hebräisch wurde vermittelt. Die Kinder, Ruth Glasberg erzählt es heute noch mit einem Schmunzeln, waren von den ehrlichen Bemühungen des Rabbiners eher amüsiert, weit war der jüdische Gelehrte von der Lebenswelt der drei Heranwachsenden entfernt.
Für alle war es ein Schock, als der Vater, Samuel Glasberg, 1929 im Alter von 43 Jahren starb. Die Mutter Sali Glasberg, in geschäftlichen Dingen unerfahren, kümmerte sich in den folgenden Jahren um die Kinder. Ihrer Schwester, Frau Marianne Rothstein, führte den Familienbetrieb der Glasbergs weiter.
Zu der schwierigen privaten Situation kommt 1933 der Machtantritt der Nationalsozialisten, die auch in Döbeln keinen Zweifel an ihrer antisemitischen Einstellung lassen. Auch hier erscheinen schon im März 1933 Bekanntmachungen, dass die Stadt keine Aufträge mehr an jüdische Firmen vergibt, die Parteileitung der NSDAP Döbeln ruft im selben Monat zum ersten Boykott jüdischer Geschäfte auf. Alle jüdischen Geschäftsleute der Stadt werden im „Döbelner Anzeiger“ namentlich genannt, auch die Glasbergs sind darunter. Um den Hass zu schüren, organisiert die Kreisleitung der NSDAP auf dem Niedermarkt eine „Protestdemonstration gegen die jüdische Gefahr“. Natürlich gab es derlei auch in anderen Städten, natürlich war Döbeln keine Stadt, die als besonders nationalsozialistisch geprägt bezeichnet werden darf, aber es gab auch hier in Döbeln viele, die in der „Machtergreifung“ ihre Chance sahen.
Ruth Glasberg bemüht sich heute, das Verhältnis der Döbelner zu den Diffamierungen der Juden durch die Nationalsozialisten zu beschreiben. Zuerst fallen ihr einzelne Begebenheiten ein. Da ist vom liberalen Gymnasiallehrer Curt Finsterbusch die Rede, der sich ehrlich bemühte, den Judenhass der Nationalsozialisten nicht zu verinnerlichen, der seine Tochter Eva nicht davon abhielt, Ruth Glasberg und ihre Brüder in der Bahnhofstraße zu besuchen, aber auch von den arbeitslosen Söhnen der Familie W., die, als sie den Besuch der Lehrertochter vom Fenster der elterlichen Wohnung aus beobachteten, in SA-Uniform über die Straße stürmten, bei den Glasbergs klingelten und Eva aufforderten, sofort „die Judenwohnung“ zu verlassen. Jedesmal, wenn die Kinder der Glasbergs am Stadtbad vorbeigingen, erinnerten sie sich, dass ihr Vater den Bau desselben mit einer bedeutenden Spende unterstützt hatte. Nun, nur wenige Jahre später, hing hier ein Schild mit der Aufschrift „Für Juden und Aussätzige verboten!“.
Später sagt Ruth Glasberg resümierend - und es scheint ihr wichtig -, dass viele Döbelner sich von der nationalsozialistischen Hetze nicht beeindrucken ließen und mit ihren jüdischen Nachbarn weiterhin verkehrten. Die große Mehrheit, erinnert sie sich, war „gleichgültig oder hatte Angst. Das ist menschlich, das verstehe ich auch heute. Der Mensch denkt ja, trotz dass man immer von Solidarität spricht, erstmal an sich“.
Aber natürlich gab es auch in Döbeln überzeugte Nationalsozialisten, die sich von Anfang an bemühten, den jüdischen Bürgern das Leben schwer zu machen. Das waren nicht nur arbeitslose Hilfsarbeiter, die in der Döbelner SA Halt fanden, sondern hierzu gehörten der damalige Döbelner Oberbürgermeister Dr. G. genauso wie der damalige Rektor des Realgymnasiums Gottfried K. .
Der Tod des Vaters war ein einschneidendes Ereignis, gerade auch für die drei Kinder der Glasbergs. Als kurz darauf, im Jahr 1934, auch die Mutter starb, veränderte sich die Situation grundlegend. Für Ruth, Max und Karl Glasberg, nunmehr Vollwaisen, übernahm die Döbelner Familie Gutherz die Vormundschaft. Dr. jur. David Gutherz, der Bruder der verstorbenen Mutter, besaß eine Metallgießerei auf der Döbelner Feldstraße, seine Frau war eine promovierte Ärztin, sie hatte ihre Praxis im Wohnhaus der Familie auf der Bahnhofstraße im Haus Nummer 51.
Frau Dr. Helene Gutherz war die Cousine Samuel Glasbergs. Sie hatte in Berlin bei Prof. Sauerbruch studiert und sich dort zur Frauen- und Kinderärztin ausbilden lassen. In Döbeln war sie eine anerkannte Ärztin, deren Sachkompetenz man schätzte. Trotz ihrer Spezialisierung gehörten auch Männer zum Kreis derer, die sich unbedingt von ihr behandeln lassen wollten. Die Familie Gutherz versuchte nun, den Kindern der Familie Glasberg ein neues Zuhause zu geben. Ruth Glasberg weiß, sie haben „das Menschenmögliche getan, um uns die Eltern zu ersetzen. Das war bestimmt nicht leicht, aber sie haben es wirklich getan und ich habe überhaupt keine Erinnerung, dass das irgendwie missglückt gewesen sein soll“.
Für die Kinder war es kein Problem, dass bei ihren neuen „Eltern“ das Judentum keine Rolle mehr spielte. Die Gutherzens waren völlig assimiliert, die Pflege der jüdischen Traditionen tolerierten sie bei ihren Verwandten, für ihr Leben spielten sie keine Rolle. Für die selbsternannten „Hüter der Volksreinheit“ war dies völlig unwichtig. Auch die Familie Gutherz wurde angefeindet. Im „Döbelner Anzeiger“ rief man dazu auf, die Praxis von Frau Dr. Gutherz zu boykottieren. Es ist erstaunlich und spricht für ihr Können als Ärztin, dass dennoch viele Döbelner weiterhin zu ihr gingen. Dies gefiel natürlich der örtlichen NSDAP überhaupt nicht und auch einige Ärzte, die in der Nähe praktizierten und in Frau Gutherz eine unliebsame Konkurrentin sahen, wünschten sich eine andere Entwicklung.
Mitte der 30er Jahre beginnt man systematisch ihre Patienten zu denunzieren, Ärztekollegen versuchen die Krankenkassen dahingehend zu beeinflussen, dass diese die Zusammenarbeit mit der Ärztin aufkündigen. 1936 hat man es geschafft, Frau Dr. Gutherz gibt ihre Praxis in Döbeln auf, sie möchte ihre Patienten nicht weiter der öffentlichen Diffamierung aussetzen. Sie zieht mit ihrem Mann nach Berlin und kann hier noch einige Zeit als Ärztin arbeiten.
Die Geburt ihres ersten Kindes gibt der Familie neue Kraft, doch auch in Berlin bleibt die Zukunft unsicher. Die Kinder der Familie Glasberg, für die die Gutherzens ja die Vormundschaft hatten, beließ man vorerst in Döbeln, sie sollten hier in ihrer gewohnten Umgebung zur Schule gehen. Zudem lebten in Döbeln ja auch noch andere Verwandte der Familie Glasberg, die bei den nun schon jugendlichen Kindern nach dem Rechten sehen konnten. Als Ruth, Max und Karl Glasberg in entwürdigender Form vom Döbelner Realgymnasium vertrieben werden, schwindet auch der letzte Grund, die Kinder weiterhin in Döbeln wohnen zu lassen. Sie ziehen 1938 zu ihren Pflegeeltern nach Berlin, hier werden sie auch wieder in ein Gymnasium aufgenommen. Es zeigt sich, dass die Frage, ob und inwieweit der Antisemitismus der Nationalsozialisten Anwendung fand, in vielen Fällen von einzelnen Menschen abhängig war – kein Ruhmesblatt für das Döbelner Gymnasium und seinen damaligen Rektor.
Noch einmal gelang es der Familie Gutherz, den Glasberg-Kindern ein Stück Normalität zu schenken, sie gingen zur Schule, ohne Diffamierungen fürchten zu müssen, Ruth Glasberg wird von ihren Mitschülern scherzhaft wegen ihres sächsischen Dialekts „Saxophon“ genannt. Doch das Glück ist trügerisch.
Die Situation der Juden in Deutschland verschlechtert sich im Herbst des Jahres 1938 zunehmend. Aus Verzweiflung über das Schicksal seiner Familie, die man als Juden unter unmenschlichen Bedingungen nach Polen deportiert hatte, erschießt Herschel Grynszpan in Paris den deutschen Gesandtschaftssekretär Ernst von Rath. Die Nazis nehmen dies zum Vorwand, um in der Nacht vom 09. zum 10.11.1938 eine reichsweite Pogromnacht zu inszenieren. Überall geht man gegen die deutschen Juden vor – jüdische Geschäfte werden zerstört, Synagogen werden angezündet, jüdische Bürger werden in vielen Orten Deutschlands grausam misshandelt, viele werden ermordet.
Die Döbelner Familie Gutherz erlebt die sog. „Reichskristallnacht“ in Berlin. Als Ruth Glasberg am Tag darauf zur Schule geht, sieht sie die zerstörten jüdischen Geschäfte, in der Schule angekommen, werden alle jüdischen Schüler wieder nach Hause geschickt.
Immer deutlicher wird, dass die Nationalsozialisten nicht nur die berufliche Existenz der jüdischen Bürger vernichten wollen, sondern dass sie auch deren Eigentum, ja sogar deren Leben geringschätzen.
Nur durch Zufall entkommt Dr. David Gutherz am Tag nach den Ausschreitungen der Verhaftung durch die Gestapo. Er ist zufällig nicht zu Hause, als sie ihn abholen wollen.
Nach der Reichspogromnacht beginnt man in Deutschland systematisch, jüdische Bürger zu enteignen. Auch die Familie Gutherz ist betroffen. Die Metallgießerei in der Döbelner Feldstraße, bis dahin noch Eigentum der Familie, wird „arisiert“. Ein promovierter Döbelner Rechtsanwalt, Mitglied in der Reiter-SA, nutzt die von den Nationalsozialisten erlassenen antijüdischen Gesetze schamlos aus und organisiert den Zwangsverkauf. Den alten Eigentümern wird mitgeteilt, dass sie vom Verkaufserlös keinen Pfennig zu sehen bekämen. Das Geld wurde auf ein Sperrkonto eingezahlt. Bis ins Jahr 1998 hat das begangene Unrecht Bestand. Nach jahrelangem Rechtsstreit erhält Ruth Glasberg, die als einzigste aus der Döbelner Familie den Holocaust überlebte, das Eigentum der Familie zurück. Das Geld vom damals angelegten Sperrkonto ist bis heute verschwunden.
Nach wenigen Wochen erhält die Familie die Nachricht, dass Max Glasberg am 07.03.1940 mit gerade mal 20 Jahren in der Haft verstorben ist. Frau Dr. Gutherz kämpft darum, dass sie die Leiche des Jungen vor der Einäscherung noch einmal sehen darf. So etwas sieht man nicht gern, aber zum damaligen Zeitpunkt kann man es ihr noch nicht verwehren. Helene Gutherz fährt nach Sachsenhausen und kommt erschüttert von dort zurück. Noch nie, so sagt sie, habe sie eine derart abgemagerte Leiche gesehen. Die Asche des Ermordeten wird der Familie wenige Tage später per Nachnahme zugeschickt. Sie wird auf dem Neuen Jüdischen Friedhof in Leipzig, wo auch die Eltern ihre Grabstätte haben, beigesetzt.
Das Jahr 1939 beginnt für die Familie Gutherz mit einer Tragödie – der kleine Sohn stirbt in Berlin plötzlich an Hirnhautentzündung, einer tückischen Krankheit, die man zur damaligen Zeit im Vorfeld nur sehr schwer erkennen konnte. Helene Gutherz wird den Tod des Kindes nie verwinden, sie, die Kinderärztin, konnte ihrem Kind nicht helfen. Ihr Selbstmord einige Jahre später hat auch mit diesem 25. Januar 1939 zu tun, jenem Tag, an dem ihr Sohn starb.
Die sich immer mehr radikalisierende Verfolgung der jüdischen Minderheit wird für die Kinder der Familie Glasberg im Jahr 1940 besonders deutlich. Als man die Tante, Marie Rothstein in Döbeln besucht, wird völlig unerwartet Max Glasberg verhaftet. Nachforschungen ergaben, dass er als Jude auf offener Straße verhaftet worden war, man hatte ihn in einer Arrestzelle des Döbelner Polizeireviers (oberhalb des Amtsgerichts) eingesperrt. Den besorgten Verwandten teilt man lakonisch mit, dass sie den Verhafteten selbst mit Nahrung versorgen müssen, wenn er nicht verhungern soll. Die Freunde und Verwandten des Jungen sind in großer Sorge. Sie wissen, wie man in Döbeln mit jüdischen Häftlingen in der Vergangenheit umgegangen ist. 1934 verhafteten zwei SA-Männer den jüdischen Geschäftsmann Hugo Totschek. Am Tag darauf findet man ihn erhängt in seiner Zelle. Das gleiche Schicksal widerfährt dem Leisniger Juden Urbach. In beiden Fällen wird als Todesursache Selbstmord angegeben – Zweifel sind angebracht.
Ruth Glasberg bringt nun täglich ihrem Bruder das Essen. Nach einigen Tagen wird sie abgewiesen, man hatte Max nach Leipzig ins Hauptquartier der Gestapo verlegt. Schlimmste Befürchtungen bestätigen sich als die Familie erfährt, dass der Bruder von Leipzig aus direkt ins KZ Sachsenhausen verbracht worden ist.
Auch den älteren Bruder Karl hatte man ins Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt. Er konnte jedoch noch einmal befreit werden. Karl hatte vor seiner Verhaftung in einem Forschungsinstitut in Berlin-Wilmersdorf gearbeitet, welches sich mit Fernsehtechnik beschäftigte. Der Leiter der Einrichtung, der ungarischer Wissenschaftler Denes von Mihaly setzte sich, als er von der Verhaftung erfuhr, für Karl Glasberg ein, intervenierte bei staatlichen Behörden und wies auf die Bedeutung des jungen Mitarbeiters für die Arbeit des Instituts hin. Das Unglaubliche geschieht. Karl wird freigelassen und darf zu seiner Familie zurückkehren. Im Taumel der Wiedersehensfreude klingelt es plötzlich an der Wohnungstür. Es ist die Gestapo. Alle fürchten, sie wollen Karl wieder mitnehmen, doch man hat anderes im Sinn. Karl muss mit seiner Unterschrift bestätigen, dass er im KZ gut behandelt worden ist, er muss sich verpflichten, über seine Erlebnisse dort mit niemandem zu sprechen.
Den Gutherzens wird in diesen Tagen immer deutlicher, dass sie für die Sicherheit der ihnen anvertrauten Kinder nicht mehr bürgen können. Besonders um Ruth Glasberg macht man sich Sorgen. Die Familie verschafft der damals 15-jährigen ein Visum nach Schweden. 1940 wird sie im Rahmen der Aktion „Rettet die Kinder“ aus Deutschland herausgebracht. Sie entkommt so dem Machtbereich der Nationalsozialisten und weiß damals noch nicht, dass ihr dies das Leben rettet. In Schweden angekommen, wird Ruth Glasberg einer Familie zugewiesen, ihre Schulausbildung kann sie nicht fortsetzen, sie beginnt schon bald eine ungeliebte Ausbildung zur Näherin. Natürlich kann man feststellen, dass die Ausreise Ruth Glasbergs nach Schweden ein Glücksumstand war, so konnte ja ihr Leben gerettet werden. Auf der anderen Seite sieht man natürlich auch, wie schwierig die Exilsituation gerade für eine Heranwachsende in ihrem Alter war, Lebensträume, berufliche Ziele mussten begraben werden.
Immer wieder schreibt Ruth Glasberg den Verwandten in Berlin, wie unzufrieden sie mit ihrer Situation ist. In Unkenntnis der Lage in Deutschland, fragt sie immer wieder, wann sie endlich wieder nach Hause kommen könne. Für David und Helene Gutherz, die in Berlin eigentlich stündlich die Deportation in ein Vernichtungslager des Ostens erwarten mussten, war diese Situation sicher nicht einfach. Man konnte zwar Briefe nach Schweden schicken, diese wurden aber streng zensiert. Große Teile des Geschriebenen wurden so geschwärzt, dass sie für Ruth Glasberg in Schweden unleserlich waren.
In Döbeln wird 1942 Marie Rothstein von ihrer langjährigen Mieterin Frau H. denunziert, weil sie beobachtet hatte, wie diese – zu einer Zeit als das für Juden schon verboten war - ein paar Briketts nach Hause trug. Sie wird ins Frauenkonzentrationslager Ravensbrück verschleppt und stirbt hier nach wenigen Monaten am 12.10.1942.
Auch in Berlin wird die Lage derweil immer schlimmer. Die jüdischen Bürger müssen deutlich sichtbar einen gelben Judenstern tragen, sie müssen sich abends ab 20.00 Uhr zu Hause aufhalten, zum Verlassen der Wohnung und zur Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel bedürfen sie einer besonderen Erlaubnis, sie dürfen keine Haustiere mehr halten, müssen alle entbehrlichen Kleidungsstücke abliefern und auch der Schulunterricht für jüdische Kinder wird eingestellt.
Das Schlimmste muss angenommen werden, als ab 1943 die Briefe, die Ruth Glasberg der Familie Gutherz nach Berlin geschrieben hatte, mit der Aufschrift „Empfänger nach Unbekannt verzogen“ zurückkommen. Nach dem Krieg erfährt sie, dass alle ihre Verwandten Opfer der Nationalsozialisten wurden.
Der Leiter des Forschungsinstituts in Berlin-Wilmersdorf, in dem Karl Glasberg immer noch arbeitete, wird 1943 verhaftet. Man wirft ihm Auslandsspionage vor. Nach wochenlangen Verhören wird er zu 25 Jahren Zuchthaus verurteilt. Karl, der durch die Verhaftung seinen wichtigsten Fürsprecher verloren hatte, wird 1943 verhaftet. Mit dem 39. Osttransport wird er von Berlin-Grunewald aus nach Auschwitz gebracht. Namentlich ist er hier nicht als Häftling vermerkt, sicheres Zeichen dafür, dass man ihn sofort in Auschwitz-Birkenau umbrachte.
Auch David und Helene Gutherz werden in Berlin verhaftet, sie werden auseinandergerissen, kommen in unterschiedliche Sammelunterkünfte, wo man die letzten jüdischen Einwohner Berlins für den Transport in die Vernichtungslager des Ostens zusammenpfercht. Frau Dr. Helene Gutherz nimmt sich hier mit Gift das Leben, der Tod des Kindes, die Verschickung der minderjährigen Pflegetochter ins Ausland, die gewaltsame Trennung von ihrem Mann und die bevorstehende Deportation, all das hatte ihren Lebenswillen gebrochen. Dr. David Gutherz wird mit dem 36. Osttransport nach Auschwitz deportiert, wo er ermordet wird.
Als Ruth Glasberg nach dem Krieg aus Schweden zurückkehrt und in Berlin nach Angehörigen sucht, stellt sie fest, dass von der gesamten Familie Glasberg/Gutherz nur sie selbst und eine Schwester von Frau Dr. Helene Gutherz überlebt haben. Von dieser Schwester erfährt sie die traurige Wahrheit, erfährt, was aus ihrem Bruder Max, was aus ihren Pflegeeltern geworden ist. Die Schwester stirbt kurz nach Kriegsende, die Haft im KZ Theresienstadt hatte ihre Gesundheit ruiniert.
Ruth Glasberg versucht soviel wie nur irgend möglich von den letzten Wochen im Leben ihrer Nächsten zu erfahren, behilflich ist ihr hierbei u.a. Heinz Galinski, der spätere Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland. Auch nach Döbeln kommt Ruth Glasberg in diesen Tagen, sie sieht ihre Geburtsstadt distanziert, nicht mehr als Ort einer glücklichen Kindheit, sondern als einen Ort, der Ausgangspunkt war für ihr Unglück war. Über die Menschen, die hier Zeugen antisemitischer Ausschreitungen wurden, spricht sie differenziert. Mit großer Zuneigung erinnert sie sich an die Familie Weidler, die sich auch in finsterster NS-Zeit loyal gegenüber den Glasbergs verhielt. Sie hatte in dieser Zeit Teile des Eigentums der Familie verwaltet, von ihr erhält Ruth Glasberg nach dem Krieg die Fotosammlung der Familie zurück. Für die junge Frau ist dies ein Schatz. Es sind Zeugnisse ihrer Vergangenheit, ihrer Kindheit und Jugend, von der ihr niemand mehr erzählen kann. Auch ihren Lehrer Finsterbusch trifft sie nach dem Krieg wieder. Als sie mit ihm spricht, merkt sie, wie er sich unsicher umschaut. Noch heute ist sie erschüttert darüber, wie tief die Stigmatisierung der jüdischen Bürger ins Unterbewusstsein der Menschen eingedrungen ist.
Viele Döbelner erkennen Ruth Glasberg wieder, als sie in diesen Tagen durch die Stadt geht, viele wissen von dem, was ihr widerfuhr. Nur ein einziger spricht sie daraufhin an, äußert Bedauern und Mitgefühl, die anderen schweigen, sie schauen weg, wenn sie der jungen Frau begegnen. Ruth Glasberg hält, das sagt sie ausdrücklich, nichts von einer Kollektivschuld der Deutschen, dennoch war es gerade die Mauer des Schweigens, die Sprachlosigkeit der Döbelner, die sie nach dem Krieg erschütterte. Die Aussage, dass sie sich nicht vorstellen könnte, wieder in Döbeln zu wohnen, hat sicher auch mit der Gleichgültigkeit derer zu tun, die sie gut kannten und die sie nun nicht wiedererkennen wollten.
Vergeblich versucht die junge Frau, das Eigentum ihrer Eltern und Pflegeeltern zurückzubekommen. Die DDR hatte allerdings wenig Interesse daran, ehemals jüdisches Eigentum zurückzuführen, schon gar nicht, wenn die Nachfahren in Schweden, also im kapitalistischen Ausland, wohnten. Diejenigen, die unter schamloser Ausnutzung der antijüdischen NS-Gesetze das Eigentum der Familien Glasberg und Gutherz „erworben“ hatten, begegnen Ruth Glasberg mit anmaßendem Zynismus, stellen die Defakto-Enteignung der Nationalsozialisten als geltendes Recht hin. Erst nach dem politischen Umbruch in der DDR kann Ruth Glasberg ihre berechtigten Ansprüche beim „Amt für offene Vermögensfragen“ geltend machen und erhält nach längeren Auseinandersetzungen das Eigentum ihrer Familie zurück.
Als ich an einem regnerischen Märztag des Jahres 1999 nach langem Gespräch mit Ruth Grasshof, wie sie heute heißt, das Gebäude des Lessing-Gymnasiums betrete, ist es für sie eine Wiederbegegnung nach langer Zeit. Seit 1938, seit ihrer Relegation, hat sie das Haus nicht mehr betreten. Als wir durch die Flure der Schule laufen und nach ihrem ehemaligen Klassenzimmer suchen, erzählt sie mir nicht von den Verletzungen, die sie an diesem Ort erfahren hat, sie erzählt von ihrer Tochter, die in England als Ärztin arbeitet und die zwei Söhne hat. Ihre Enkel, das merkt man, sind ihr ganzer Stolz.
Hier schließt sich der Kreis und ich fühle mich an etwas erinnert, was Ruth Grasshof während unseres Gesprächs sagte. Das Leben eines Menschen folgt einem Schicksal. Jene, die anderen Leid zufügen, müssen sich eines Tages dafür verantworten, für jene die Leid erdulden mussten, erfüllt sich später nicht selten die Hoffnung auf Glück.
Michael Höhme
(Erstabdruck in der „Döbelner Allgemeinen Zeitung“ 6./7.11.1999)
_______________________________________________________
Bitte beachten Sie auch diese Seite: Stolpersteine in Döbeln