Reichspogromnacht 1938
Seit der Machtübernahme Hitlers 1933 waren die Juden zunehmend den Diskriminierungen durch das NS-Regime ausgeliefert. Dieser Antisemitismus und die Judenfeindschaft äußerten sich vor allem im Boykott und in der Verdrängung des jüdischen Volkes aus allen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereichen. Demnach ist es sehr verwunderlich, dass nur so wenig Juden Deutschland in den ersten Jahren nach 1933 verlassen haben. Einerseits war die Auswanderung lediglich den reichen Juden mit den nötigen "Kontakten" vorbehalten, wobei die vermögenslosen Juden dazu verurteilt waren im Land zu bleiben. Doch andererseits sahen sich die deutschen Juden als Teil des deutschen Volkes an. Deutschland war ihre Heimat. Wo sollten sie hin? Wie sollten sie im Ausland leben? Für die meisten jüdischen Familien gab es keine Alternative und so kam es, dass die überwiegende Mehrheit erst mit dem Novemberpogrom das bittere Erwachen erlebte.
Foto: Bundesarchiv, Bild 146-1988-078-08 / CC-BY-SA 3.0 / CC BY-SA 3.0 DE
Den Anfang der verhängnisvollen Entwicklung bildete ein eher "nebensächlicher Anlass": Im Herbst 1938, nach dem "Anschluss" Österreichs, hatte die polnische Regierung Befürchtungen, dass die in Österreich lebenden 20000 Juden polnischer Staatsangehörigkeit eine Rückkehr nach Polen beabsichtigten, um dem nationalsozialistischen Regime zu entfliehen. Um diese Rückkehr zu verhindern, wurde den Betreffenden, die mehr als 5 Jahre im Ausland gelebt und die Verbindung zum polnischen Staat verloren hatten, die Staatsangehörigkeit zu Polen entzogen. Da das NS-Regime nicht daran interessiert war, dass die Juden im Reichsgebiet verblieben, wurden am 28. Oktober 1938 mehr als 15000 Juden bei einer "Nacht- und Nebelaktion" in das deutsch-polnische Grenzgebiet abgeschoben.
Dies betraf vorwiegend die 70.000 Juden polnischer Nationalität, die in Deutschland lebten und deren Pässe am 30. Oktober ihre Gültigkeit verloren hätten. Unter den Deportierten befand sich auch die Familie Grynszpan aus Hannover. Die Grynszpans hatten zwei Töchter und einen Sohn Herschel (damals 17 Jahre alt), der sich illegal in Paris aufhielt. Als Herschel eine Postkarte seiner Schwester erhielt, in der sie über die Abschiebeaktion berichtete, kaufte sich dieser daraufhin am 7. November eine Pistole und Munition, um sich anschließend zur deutschen Botschaft zu begeben. Die unerhörte Brutalität gegen seine Familie empörte den jungen Mann so sehr, das er sich zu einem Attentat entschloss. Als er den Botschafter zu sprechen verlangte, wurde er an den Legationssekretär Ernst vom Rath verwiesen, auf den er fünfmal schoss. Später ließ er sich ohne Gegenwehr von der französischen Polizei festnehmen.
Nur Stunden später hatten die Nachrichtenagenturen das Ereignis in aller Welt verbreitet. Die Nationalsozialisten ließen augenblicklich behaupten, dass die Tat des Herschel Grynszpan ein Anschlag des "internationalen Judentums" auf das Deutsche Reich sei. Die Regie der öffentlichen Meinung über die Ereignisse in Paris erfolgte durch die Lenkung, Ausrichtung und Gleichschaltung der deutschen Presse. Allen Redaktionen wurden Vorschriften gemacht, über Form und Inhalt der Berichterstattung: "In eigenen Kommentaren ist darauf hinzuweisen, dass das Attentat des Juden die schwersten Folgen für die Juden in Deutschland haben muss, [...]. Es ist die Frage zu stellen, ob es die Absicht der jüdischen Clique war, Schwierigkeiten zwischen Deutschland und Frankreich herauf zu beschwören."
Die durch die Presse erzeugte Stimmung entlud sich vereinzelt schon am 7. und 8. November in Ausschreitungen gegen Juden und jüdische Institutionen.
Die Rede Goebbels (Reichspropagandaminister) am 9. November 1938 in einem Münchner Bierkeller zum Gedenken an den Hitler-Putsch von 1923 war das Signal zum Losschlagen und zugleich Handlungsanweisung.
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Die Rede Goebbels (Reichspropagandaminister) am 9. November 1938 in einem Münchner Bierkeller zum Gedenken an den Hitler-Putsch von 1923 war das Signal zum Losschlagen und zugleich Handlungsanweisung.
In der Nacht vom 9. zum 10. November wurden im gesamten Deutschen Reich fast alle Synagogen in Brand gesteckt und ausgeraubt. Etwa 7000 jüdische Geschäfte und Gemeindeeinrichtungen wurden vollständig demoliert und ausgeplündert.
Wertgegenstände, Bilder und Porzellan wurden ebenfalls sinnlos zertrümmert oder mitgenommen. Es wird geschätzt, dass etwa 20000 Juden aus ihren Wohnungen "herausgeprügelt" und in die Konzentrationslager verschleppt wurden.
Foto: Bundesarchiv, Bild 183-86686-0008 / CC-BY-SA 3.0 / CC BY-SA 3.0 DE
Tausende von jüdischen Menschen wurden in dieser schrecklichen Nacht verletzt, ganz zu schweigen von den mehr als hundert Toten. Viele Entrechtete begingen Selbstmord oder wurden in den folgenden Wochen in den Konzentrationslagern umgebracht, entkräftet oder ebenda zum Selbstmord getrieben.
Einige Ausschreitungen in dieser Nacht dauerten örtlich sogar bis zum 13. November an. Die Berichterstattungen am Tag nach dieser Nacht waren wie die über das Attentats durch genaue Regieanweisungen bestimmt. Immer wieder wurde beteuert, wie spontan die Reaktionen auf den Mord an Rath durch Grünspan gewesen seien, wie diszipliniert sich die Entzürnten gegenüber den Juden verhalten hätten. Aber das diese Taten alles andere als spontan waren, wird durch die Überzeugung des Rabbiners Eschelbacher deutlich: "Die Plünderungen, Brandstiftungen, Morde, Verhaftungen und Misshandlungen erfolgten nach einem genau ausgearbeitetem Plan. Die Banden der Mordbrenner waren vorher schon bis ins Einzelne bestimmt [...]. Die Anweisungen zum Pogrom sind nach sorgfältiger Vorbereitung durch Funkspruch gegeben worden."
Mit keinem anderen Ereignis hatte das NS-Regime so eindeutig und kaltblütig demonstriert, dass es sich über jede humanitäre Regung hinweg setzt und auch auf den Schein rechtsstaatlicher Tradition verzichtet.
Diese Absicht wurde z.B. von der Kommunistischen Partei erkannt und geht aus einer Erklärung vom November 1938 hervor: " ... Es ist eine elende Lüge, dass die Pogrome ein Ausbruch des "Volkszorns" gewesen seien. Sie wurden von langer Hand vorbereitet, befohlen und organisiert. allein von den national-sozialistischen Führern [...]. Die kommunistische Partei wendet sich an alle Kommunisten, Sozialisten, Demokraten, Katholiken und Protestanten, an alle anständigen und ehrbewussten Deutschen mit dem Appell: "Helft unsern gequälten jüdischen Mitbürgern mit allen Mitteln [...]."
Der Novemberpogrom, als "Reichskristallnacht" von den Faschisten verharmlost, bedeutet die Negierung aller Errungenschaften der Aufklärung. Jegliche Ideen von der Freiheit des Individuums wurden missachtet und verletzt.
verfasst von Susanne N.
Wahlgrundkurs „Jüdische Geschichte und Kultur“ 2000/2001