Das Warschauer Ghetto
"Ich glaube an die Sonne auch wenn sie nicht scheint.
Ich glaube an die Liebe auch wenn ich sie nicht fühle.
Ich glaube an Gott auch wenn er schweigt."
„Dieser Tag, Sonntag, der 13. Oktober, machte einen wunderlichen Eindruck auf mich. 140 000 Juden aus den Vororten Warschaus [...] werden gezwungen, ihr Heim zu verlassen und in das Ghetto zu ziehen. Alle Vororte sind von den Juden geleert worden, und 140 000 Christen werden gezwungen, die Ghettoquartiere zu verlassen. [...] Den ganzen Tag bewegten die Menschen Möbel. Der Jüdische Rat wurde von Menschen belagert, die wissen wollten, welche Straßen zum Ghetto gehörten.“
(Emmanuel Ringelblum, Oktober 1940)
So oder so ähnlich verlief jener Oktobertag im Jahre 1940, als man alle Juden in und um Warschau in einem Ghetto im Zentrum der Stadt zusammengefaßt hat. Doch das Schicksal der größten jüdischen Gemeinde in Europa war schon ein reichliches Jahr zuvor besiegelt worden.
Mit der Besetzung der polnischen Hauptstadt durch die Wehrmacht im September 1939 unterlag die jüdische Bevölkerung von Beginn an Zwangsmaßnahmen jeglicher Art. Die Bewegungsfreiheit wurde eingeschränkt, Privateigentum zum Teil beschlagnahmt und es herrschte für jeden Juden über 12 Jahren Kennzeichnungspflicht, d.h. es musste eine Armbinde getragen werden, auf der ein blauer Davidsstern auf weißem Grund deutlich zu sehen war. Oft ging die Kennzeichnungspflicht einher mit der Tatsache, dass die Juden nun vogelfrei waren, dass bedeutete beispielsweise gewalttätigen Übergriffen ohne jeden Schutz ausgeliefert zu sein. Im November 1939 erfolgte der erste Schritt in Richtung Ghettoisierung. Die Wehrmacht erklärte das jüdische Viertel in der Altstadt zum „Seuchensperrgebiet“, welches von deutschen Soldaten nun nicht mehr betreten werden durfte. In offiziellen Kreisen bezeichnete man das „Seuchensperrgebiet“ jedoch als „Jüdischen Wohnbezirk“, da dieser Begriff wahrscheinlich weniger anstößig war.
Am 2. Oktober 1940 erfolgte letztendlich nach zahlreichen Verordnungen und Planungen der Befehl ein Ghetto zu bilden. Die gesamte jüdische Bevölkerung aus Warschau und den umliegenden Regionen wurde aufgefordert, ihre Häuser zu verlassen und in den nun folgenden sechs Wochen in das bestimmte Gebiet zu ziehen. Mitte November wurde das Ghetto von der Außenwelt abgeriegelt und von einer drei Meter hohen und 18 km langen Mauer umfasst. Über 350.000 Menschen lebten in diesem flächenmäßig kleinen Gebiet, so dass jeder Bewohner nur etwa siebeneinhalb Quadratmeter Raum zur Verfügung hatte. Es war nicht möglich jeder Familie einen separaten Raum zuzuweisen, deshalb mussten teilweise 15 oder mehr Menschen einen Raum gemeinsam nutzen. Zusätzlich verschärft wurde die Raumnot durch Deportationen in das Warschauer Ghetto.
Zwischen Januar und März 1941 brachte man weitere 50.000 Juden hierher. Schon im Winter 1940/41 zeigte sich, dass dieser Platzmangel weit mehr Gefahren in sich barg, als man zunächst annahm. Mit der Winterkälte kamen Hunger, Krankheiten und Epidemien. Die Versorgung mit Brennmaterialien reichte nicht einmal für die Hälfte der Bevölkerung des Ghettos aus. Ebenso knapp waren Lebensmittel. Die deutschen Behörden teilten dem Ghetto pro Person 200 Kalorien am Tag zu. Vergleicht man dazu die heutige Diätkost in einem Krankenhaus, liegt diese bei 1000 Kalorien täglich. Somit wird deutlich, dass das Erhalten von Lebensmitteln einen täglichen Kampf ums Überleben bedeutete, zumal man gezwungen war, seinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Anfangs gelang dies der jüdischen Bevölkerung durch den Verbrauch eigener Ersparnisse. Innerhalb des Ghettos war eine Sicherung der Existenzgrundlage nicht möglich. Daher ist es nicht verwunderlich, dass man versuchte Lebensmittel ins Ghetto zu schmuggeln. Die Abriegelung des Warschauer Ghettos war nicht ganz gelungen, doch die deutschen Wachen an den Außenmauern und die häufig antisemitisch eingestellte Bevölkerung Warschaus bildeten eine große Gefahr für die Juden. Wurde man ertappt, so folgte der sichere Tod durch Erschießen.
Diese eben beschriebenen menschenunwürdigen Verhältnisse führten zwangsweise zu einer extrem ansteigenden Sterberate, vor allem bei Kindern und älteren Menschen. Im Jahre 1941 starb bereits jeder Neunte aufgrund dieser unvorstellbaren Lebenssituation. In dem Krankenhaus, welches sich innerhalb des Ghettos befand, versucht man die Krankenfürsorge zu gewährleisten, doch dies war wegen fehlender Medikamente und Nahrung sowie ungeeigneter Krankenlager nicht möglich. Zahlreiche verwaiste und abgemagerte Kinder gehörten ebenso zum Straßenbild des Ghettos wie verzweifelte Straßenhändler, die ihr letztes Hab und Gut verkauften, um Geld für Lebensmittel zu bekommen, sowie Bettler, Diebe und die von Zeitungen bedeckten Leichen.
Auch wenn es für die jüdische Bevölkerung kaum möglich war, versuchte man dennoch ein annähernd normales Leben zu führen. Schulen wurden trotz eines Verbotes errichtet, es gab einen Kinderchor, es gelang sogar ein Sinfonieorchester voll zu besetzen. Neben den kulturellen Betätigungen, gelang es Emanuel Ringelblum eine Gruppe zu gründen, die sich mit der Sammlung von persönlichen Berichten und Erlebnissen aus dem Warschauer Ghetto beschäftigte. Diese Sammlung, heute bekannt als das Ringelblum-Achiv, konnten mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges geborgen werden und erlangte große Bedeutung, da sie zahlreiche Informationen über das Leben der Juden in Warschau liefert. Auch das religiöse Leben wurde im Ghetto zum Teil fortgesetzt. Doch oft endeten Gebete mit Verhöhnungen und Demütigungen von Seiten der SS oder Gestapo. So kam es vor, dass man Gläubigen die Bärte abschnitt oder man zwang sie auf Torarollen und Gebetbücher zu urinieren.
Von April bis Juli 1942 wurde die Lage im Warschauer Ghetto noch einmal verschärft. 6.000 bis 7.000 Juden aus Böhmen und zahlreichen anderen Gebieten des Reiches wurden ins Ghetto gebracht. Im Sommer 1942 begann man auch in Warschau mit der - auf der Wannseekonferenz beschlossenen - „Endlösung der Judenfrage“.
Wie die vielen anderen Ghettos im Dritten Reich, hatte auch das Warschauer Ghetto einen sogenannten „Umschlagplatz“. Er lag im Norden des Ghettos und um die Deportationen zu erleichtern, hat man eigens dafür Sondergleise verlegt. Der erste Abtransport erfolgte am 23. Juli 1942 aufgrund eines Befehls von Heinrich Himmler und hatte, wie die meisten der folgenden Deportationen auch, das Vernichtungslager Treblinka zum Ziel. Dieses Vernichtungslager lag etwas 100 km nordöstlich von Warschau. Dem jüdischen „Ordnungsdienst“ übertrug man die Aufgabe, täglich z.T. bis zu 6.000 Menschen zum „Umschlagplatz“ zu bringen.
Ursprünglich wurde der jüdische „Ordnungsdienst“ oder auch „Judenrat“ eingerichtet, um als Bindeglied zwischen der deutschen Besatzungsmacht und den Bewohnern des Ghettos zu fungieren. Über diese Einrichtung wurden der Wirtschaftsverkehr und die Durchsetzung von Befehlen geregelt. Doch mit der nun zu erfüllenden Aufgabe stand der Judenrat vor ganz neuen Schwierigkeiten. Der Vorsitzende des Judenrates Czermiaków wählte den Freitod, um den Kooperationen mit der Wehrmacht zu entgehen.
Bis Mitte September 1942 wurden aus dem Warschauer Ghetto ca. 260.000 Menschen in die Tötungslager, v.a. nach Treblinka, deportiert. Die deutsche Besatzungsmacht stieß bei ihren Deportationsmaßnahmen lange Zeit auf keine Gegenwehr. Zwar weigerten sich immer wieder Einzelpersonen ihre Familien zu verlassen, doch einen organisierten Widerstand gab es nicht. Erst mit der Entscheidung das Ghetto endgültig aufzulösen, stießen die deutschen Truppen am 19. April 1943 erstmals auf bewaffnete Gegenwehr. Ausgegangen war diese Erhebung von der Kampforganisation „Zydowska Organizacja Bojowa“ (ZOB), welche sich im Herbst 1942 unter den etwa 60.000 im Ghetto Verbliebenen gebildet hatte.
Ursache für die Formierung dieser Untergrundorganisation war vor allem die stete Verschlechterung der allgemeinen Lebenssituation. Der ZOB gehörten mehrere hundert Personen an. Als an dem besagten Tag die Truppen der SS in das Ghetto einrücken wollten, um die endgültige Liquidierung der Ghettobewohner vorzubereiten, griffen ca. 600 Anhänger der ZOB zu ihren Waffen. Ihr Führer war der 24-jährige Mordechai Anielewicz. Über Wochen gelang es den verzweifelten Juden sich trotz der aussichtslosen Lage gegen die deutsche Truppen im Häuserkampf zu halten. Erst als die Deutschen Feuerwerfer einsetzten und damit die Niederbrennung des Ghettos verursachten, konnten die Aufständigen unter Kontrolle gebracht werden. Unter SS-General Jürgen Stropp (1895-1952) konnte letztendlich der Aufstand am 16. Mai 1943 blutig niedergeschlagen werden. Der Kampf um das Warschauer Ghetto hatte länger gedauert, als der Einmarsch in Polen.
Das Warschauer Ghetto selbst wurde nun aufgelöst. Die verbliebenen Bewohner, etwa 40.000 wurden entweder direkt im Ghetto erschossen, in Zwangsarbeitslager oder in das KZ Warschau gebracht, welches während des Ghettoaufstandes innerhalb der Ghettozone entstanden war. Über die Jahre seines Bestehens wurden etwa eine halbe Million Menschen in das Warschauer Ghetto verschleppt. Die Zahl der Überlebenden beläuft sich auf wenige tausend.
verfasst von Sophia H.
Wahlgrundkurs „Jüdische Geschichte und Kultur“ 2004